C 1.1.17 Von der Geistesstärke
Die CONSTANTIA des Justus Lipsius
Buch 1
Kapitel 1
Vorwort und Einführung.
Eine Klage über die Unruhen in Belgien[1]
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ls ich vor einigen Jahren unterwegs nach Wien in Öster-
reich war – ich wollte den Wirren meiner Heimat entfliehen
-, wich ich, wohl aufgrund göttlicher Fügung, von meiner Route ab und wandte mich nach Lüttich.
Die Stadt lag nicht weit vom Weg, und dort hatte ich Freunde, die zu besuchen mich Anstand wie auch liebevolle Zuneigung bewogen. Unter ihnen befand sich auch Carolus Langius, ein
Langius Mensch- Mann – wie ich ohne Speichelleckerei und Anmaßung sagen kann
lichkeit und Güte – von äußerster charakterlicher Größe und belesener Gelehrsamkeit.
Als der mich in sein gastliches Haus aufnahm, hat er die Dinge, die mich beunruhigten, ins rechte Maß gerückt, und zwar nicht nur mit seiner ganzen freundlichen Heiterkeit und seinem Wohlwollen, sondern auch durch Gespräche, die mir für alle Zeit nützlich, ja heilsam sein werden. Denn er war der Mann, der mir die Augen öffnete und den Schleier vieler Stammtischparolen vertrieb, der mir den Weg zeigte, auf dem ich ohne Umschweife – um es mit Lukrez zu sagen – ‘durch Unterweisung zu den emporragenden hellen Tempeln der Weisen gelangte’. Denn als wir nach Mittag wegen der Gluthitze – es war ja schon Ende Juni – in
C 1.1.18 das Atrium seines Hauses gingen, fragte er beiläufig in seiner freundlich gewinnenden Art nach meinen Reiseabsichten und ihren Gründen. Nachdem ich ihm von den Unruhen in Belgien, der Unverschämtheit der Machthaber und Militärs zahlreiche Beispiele offen und ehrlich genannt hatte, fügte ich schließlich an, dies sei die eigentliche Ursache meines Abschieds, sollte ich auch eine andere vorgeschützt haben.
„Denn wer, Langius“, fragte ich, „ist so stark und eisern, dass er länger den Übeln, die wir jetzt ertragen müssen, die Stirn bietet? Wie du siehst, werden wir nun schon so viele Jahre hindurch von der Wut der Bürgerkriege erschüttert und, wie auf einem tosenden Meer, von zahlreichen Stürmen der Unruhen und Aufstände hin und her geworfen. Muße soll mein Herz finden und Ruhe? Die Trompeten des Krieges und das Getöse der Waffen wissen es zu verhindern. Suche ich Zuflucht in den Gärten und auf dem Land? Irgendein Soldat oder Messerstecher treibt mich schon in eine Stadt. Daher, Langius, ist es mein fester Entschluss, dieses unruhige und unheilvolle Belgien zu verlassen – der Schutzgeist des Vaterlandes[2] mag mir verzeihen – und mein Land mit einem anderen zu tauschen, um, wie jener da sagt, ‘bis ans Ende der Welt zu fliehen, wo ich weder von den Taten der Nachkommen des Pelops[3] noch ihre Namen höre.’“
Langius erwiderte darauf verwundert und irgendwie ermuntert: „So, Lipsius, willst du von uns gehen?“ „Ja“, versetzte ich, „von euch oder sonst ganz aus diesem Leben. Denn welche Rettung gibt es aus dieser vermaledeiten Drangsal außer in der Flucht? Denn ich kann das nicht täglich sehen und auch noch ertragen, Langius, und ich trage auch keinen Stahl[4] um mein Herz.“
Auf diese Rede hin seufzte Langius: „Schwacher Jüngling, was soll diese Weichheit? Warum willst du dein Heil in der Flucht suchen? Ich gebe zu, dein Vaterland brodelt und brennt. Aber wo tut es das nicht, heute in Europa? Wie leicht kannst du mit jenem Ausspruch des Aristophanes prophezeien: ‘Du aus der Höhe donnernder Jupiter wirst das obere zu unterst kehren!’ Daher darfst du nicht aus deinem Vaterland fliehen, Lipsius, sondern musst deine Affekte beherrschen; und so gilt es, den Geist zu stärken und auszubilden, damit wir ruhig sind mitten im Aufruhr und innerlich ausgeglichen zwischen allen Waffen.“
Darauf antwortete ich als junger Mann noch reichlich unerfahren: „Doch, Langius, man muss die Heimat verlassen. Denn sicherlich ängstigen uns Übel, von denen wir in der Ferne hören, weniger stark als die, die wir mit eigenen Augen erblicken, und so werden wir uns selbst der Reichweite der Geschosse entziehen und weit weg vom Pulver dieses Kampfes sein. Hörst du nicht, wie Homer klug zurät: ‘Weg von dem Geschützdonner, damit der Wunde keine neue hinzugefügt wird’?“
C 1.2.19 Kapitel 2
Das Reisen nützt nichts bei psychischen Leiden.
Es zeigt nur die äußeren Symptome, heilt aber nicht an der Wurzel,
außer bei einer leichten und ersten Regung der Affekte.[5]
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angius erwiderte mit sanftem Kopfschütteln: „Ich höre
wohl, doch wollt ich lieber, du redetest nach Weisheit und
Vernunft. Denn das, was dich umhüllt und verwirrt, sind Nebel und Wölkchen vom Dunst der gängigen Meinungen. Daher ist für dich, um es mit Diogenes zu sagen, die Vernunft vonnöten, nicht der Fallstrick des Fehlurteils. Ich sage dir, du brauchst einen Lichtstrahl, der die Finsternis deines Kopfes erleuchtet. Schau, du verlässt also dein Land, aber sag ernsthaft, wenn du jenes fliehst, wirst du auch dir selber entkommen? Sieh zu, dass nicht das Gegenteil geschieht und du mit dir und in deinem kranken Herzen den Quell und Zündstoff deiner Übel herumschleppst.
Wenn wir wie Geisteskranke vergebens von einem Land ins andere reisen, verhalten wir uns wie Fieberkranke, die sich in der vergeblichen Hoffnung auf Linderung hin und her werfen und sogar das Bett wechseln. Das heißt nämlich nur, die Krankheit offen zu legen, nicht sie wegzunehmen, diese innere Hitze einzugestehen, nicht sie zu heilen. Eleganter fügt es der römische Weise: ’Es ist dem Kranken eigen, dass er nichts lange duldet und die Veränderungen wie Heilmittel verwendet. Daher werden weite Reisen unternommen und ferne Gestade durchirrt, und bald zu Wasser, bald zu Lande versucht sich der Wankelmut, immer feindlich gegenüber den gegenwärtigen Dingen.’[6]
Daher flieht man nur vor den Wirren, man entkommt ihnen aber nicht. Wie jene Hirschkuh bei Vergil,[7] welche, ‘weil nicht auf der Hut, von ferne in den kretischen Wäldern der treibende Hirt mit Pfeilen durchbohrte und die auf ihrer Flucht durch Wälder und Täler das Diktegebirge durchstreifte’’ – vergeblich, weil, wie derselbe Dichter hinzufügt, ‘der todbringende Pfeil in der Flanke steckte’. So seid auch ihr, die ihr mit diesem Pfeil der Affekte tief durchstoßen seid. Ihr schüttelt ihn nicht ab, sondern tragt ihn auf eurer Wanderung mit. Wer sich das Schienbein oder einen Arm gebrochen hat, verlangt nicht einen Wagen oder ein Pferd, denke ich, sondern einen Chirurgen. Was ist das für eine Eitelkeit, dass du forderst, diese innere Wunde durch Bewegung und Hin- und Herfahren zu heilen? Denn es ist mit Sicherheit der Geist, der krank darnieder liegt; und diese ganze äußere Schwäche, Verzweiflung, Mattigkeit entspringt aus einer Quelle: dass jener keine Kraft mehr verspürt.
C 1.2.20 Der vornehmste und göttliche Teil im Menschen hat das Zepter weggeworfen und ist derart der Selbstverachtung anheim gefallen,[8] dass er freiwillig seinen Knechten dient.
Sag, was soll hier ein bestimmter Ort oder seine Veränderung bewirken? Es sei denn, es gibt vielleicht eine Gegend, die die Furcht mäßigt, die übertriebene Hoffnung zügelt, die das böse Gift der Laster, das wir tief eingesogen haben, entzieht. Doch gibt es diese Region nicht, nicht einmal auf den Inseln der Glückseligen; oder, wenn es eine gibt, so zeige sie uns, und wir gehen in der Tat zuhauf dorthin.
Aber du sagst, die Bewegung und Veränderung hat ebendiese Kraft und erholt und erhebt den am Boden liegenden Geist durch die tägliche Schau neuer Gebräuche, Menschen und Orte.
Lipsius, du irrst! Denn, um der Sache gerecht zu werden, verachte ich das Reisen nicht soweit, dass ich ihm überhaupt keine Berechtigung bezüglich Mensch und Affekte zuspreche. Im Gegenteil, es gibt eine, aber nur insofern, als die Veränderung des Ortes einen leichteren Überdruss unserer Stimmungslage wie eine Seekrankheit wegnimmt. Reisen beseitigt nicht die schwereren Krankheiten, die so tief eingedrungen sind, dass keine äußere Medizin dahin gelangt. Gesang, Wein und Schlaf haben nicht selten die ersten kleinen Gemütsregungen von Zorn, Trauer oder Liebe geheilt.[9] Doch niemals gelang dies bei einer Krankheit, die tiefe Wurzeln geschlagen und sich festgekrallt hat. So ist es auch hier: Das Reisen wird vielleicht leichten Unmut heilen, nie aber richtige Schwermut. Die ersten genannten Regungen sind aus dem Körper entstanden und haften irgendwie am Körper, sozusagen an der äußersten Hülle des Geistes. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn sie mit einem Schwamm, sei er noch so glatt, abgewischt werden können. So geht es aber nicht bei den verwurzelten Affekten, die ihren Platz, besser noch ihr Reich, im Zentrum des Geistes haben.
Solltest du noch so lang und viel herumgeirrt sein, jedes Land und Meer bereist haben, keine See wird diese hinwegwischen, keine Erde sie verschlingen. Sie werden dir folgen, und finstere Sorge – um es mit dem Dichterwort[10] zu sagen – wird dich begleiten, ob du zu Fuß reist oder hoch zu Ross.
Als Sokrates einmal gefragt wurde, warum das Reisen keinerlei Nutzen gebracht hätte, antwortete er dem Fragenden klug: ‘Du kannst nicht aus deiner Haut.’[11] Ähnlich möchte ich hier anfügen: Wohin du auch immer fliehen wirst, deinen kaputten und zerstörerischen Geist hast du immer dabei. Und das ist kein guter Gefährte. Ach, was sage ich? Wär’s doch nur dein Begleiter, ich fürchte, er wird dein Führer. Denn deine Affekte folgen dir nicht, sie zerren dich.
C 1.3.21 Kapitel 3
Die wahren Geisteskrankheiten[12] werden
durch das Reisen nicht beseitigt und gemildert, sondern brechen erst richtig auf.
Es ist der Geist, der in uns erkrankt ist.
Sein Heilmittel muss in der Weisheit und Geistesstärke gesucht werden.
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as Umherreisen, sagst du, lenkt dich also nicht von den
wahren Übeln ab? Der Anblick der Felder, der Flüsse und
Berge verdrängt nicht das Empfinden deines Schmerzes? Vielleicht gibt es zuweilen Ablenkung, aber nicht lange – und nicht zum Guten. So wie ein Gemälde, und sei es noch so herausragend, die Augen nur kurz erfreut, packt uns zwar die ganze leidige Abwechslung von Menschen und Orten aufgrund ihres Neuigkeitsgehaltes, aber nur für eine kurze Zeitspanne.
Es handelt sich hierbei lediglich um eine Abschweifung von den Übeln, nicht um eine Rettung. Das Reisen löst die Kette der Trübsal nicht auf, es macht sie durch Auflockerung nur weiter. Was nützt es mir, wenn ich zunächst ein wenig Licht erblicke, mich bald aber in einem finsteren Kerker wiederfinde?
Tatsache ist: Alle äußeren Begierden und Bestrebungen stellen dem Geist mit Tücke und List Fallen auf, sie geben sich nach außen den Anschein zu helfen und schaden dabei umso mehr.
Ein Medikament, das zu schwach ist, entzieht ja auch schädliche Feuchtigkeit nicht, sondern stimuliert sie. So reizt und vermehrt in uns die fruchtlose, inhaltsleere Freude die Flut immer neuer Wünsche und Begierden.
Denn der Geist entkommt seiner selbst nicht lange, sondern wird gegen seinen Willen nach Hause getrieben – in die alte Gemeinschaft seiner Übel und Drangsal. Der Anblick der fremden Städte und Berge wird dich mit deiner Vorstellungskraft in dein Vaterland zurückführen, und inmitten aller Freude wirst du etwas sehen oder hören, das das Gefühl deines Schmerzes wieder aufreißt. Du wirst vielleicht ein wenig ausruhen, aber jener Schlaf wird nur kurz sein, und schon bald, nachdem du erwachst, hast du dasselbe oder ein noch größeres Fieber. Denn gewisse Begierden wachsen, nachdem sie unterdrückt worden sind, und kommen selbst nach langer Zeit zu neuen Kräften.
Jag zum Teufel, Lipsius, was nichtig, ja sogar schädlich ist. Denn das ist keine Arznei, sondern ein Gift. Lass besser das Wahrhaftige und Harte ein. Du willst auswandern? Ändere lieber deine Weltsicht, die du üblerweise den Affekten verkauft hast, die du ihrer rechtmäßigen Herrin, der Vernunft, entzogen hast. Von dieser deiner zerstörten Geisteshaltung rührt deine Verzweiflung her, von jener kommt auch deine schädliche Verdrossenheit. Also musst du deine Haltung ändern, nicht das Land verlassen. Es kommt nicht darauf an, anderswo, sondern ein anderer zu sein.
Du brennst darauf, das fruchtbare Österreich[13] zu sehen, das sichere und starke Wien, die Königin der Flüsse, die Donau, und
C 1.3.22 so viele wunderbare und neue Dinge, die deine Zuhörer dann mit Spannung in sich aufnehmen.
Aber um wie viel besser wäre es, wenn du mit einem solchen Eifer zur Weisheit strebtest? Wenn du ihre fruchtbaren Felder durchzögest? Wenn du die Urgründe menschlicher Verwirrung untersuchtest? Wenn du so einen gefestigten Schutz errichtetest, mit dem du den Ansturm der Leidenschaften abwehren und dich verteidigen könntest? Denn darin liegt das wahre Allheilmittel deiner Krankheit. Alles andere ist nur ein unzureichender Verband für deine klaffende Wunde. Weglaufen wird dir nichts nützen.
‘Und hättest du noch so viele Städte Griechenlands hinter dir gelassen und den Fluchtweg dir mitten durch deine Feinde gebahnt’,[14] du wirst den Gegner bei dir und in diesem Innern (damit schlug er auf meine Brust) wiederfinden.
Was nützen dir noch so viele befriedete Gebiete? Den Krieg schleppst du doch mit dir herum. Was bringen dir noch so viele Ruheplätze? Die Unruhen umgeben dich, mehr noch: Sie sind in dir. Dein zwieträchtiger Geist ringt und wird immer mit sich ringen. Bald begehrt er auf, dann wieder meidet er fliehend das Erstrebte, bald hofft er, dann wieder verzweifelt er.
Die, die aus Furcht die Flucht ergreifen, setzen sich gerade dadurch der Gefahr aus, weil sie ungeschützt sind und dem Feind den Rücken zuwenden. So handeln Stümper und Anfänger, die sich nie dem Kampf mit den Affekten gestellt, sondern ihr Heil ausschließlich in der Flucht gesucht haben.
Aber du, junger Mann, wirst, wenn du auf mich hörst, fest stehen und die Stellung gegen diesen Gegner der inneren Anfeindung[15] behaupten. Denn du brauchst vor allem die Constantia, die Stärke und Standhaftigkeit im Geist. Als Sieger ist noch keiner durch Davonlaufen, sondern nur durch Kampf vom Platz gegangen.“
C 1.4.22 Kapitel 4
Die Begriffsbestimmungen von Geistestärke (Constantia),
Duldsamkeit (Patientia), Weisheit (Recta Ratio) und Meinung (Opinio).[16]
Ebenso werden die Halsstarrigkeit (Pervicacia) im Unterschied zur Constantia
und die Mutlosigkeit im Gegensatz zur Patientia untersucht.
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urch diese Worte des Langius wurde ich etwas mutiger.
„Deine Ermahnung ist erhaben und vorzüglich“, erwiderte
ich, „schon versuche ich, fest zu stehen und mich aufzurichten – aber eher wie die, die sich im Traum vergeblich abmühen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Ich will dir nichts vormachen, Langius, ich werde immer wieder zu Boden geworfen. Die Sorgen – ob politisch motiviert oder privat – sitzen fest in meinem Herzen. Wenn du es kannst, verscheuche die bösen Vögel, die mich zerfleischen und nimm mir die Fesseln des Kummers ab, mit denen ich seit langem an diesen Kaukasus gebunden bin.“[17]
C 1.4.23 Darauf antwortete Langius mit freudiger Miene: „In der Tat, ich werde diese Fesseln wegnehmen. Als neuer Herkules werde ich diesen Prometheus hier von seinen Qualen erlösen. Höre nur zu und sei aufmerksam.
Def. Constantia Constantia oder Geistesstärke nenne ich hier die rechte und unerschütterliche Kraft des menschlichen Geistes. Sie verhindert, dass er von äußerlichen und zufälligen Dingen zur Überheblichkeit verleitet oder in die Depression gestürzt wird. Ich sagte Kraft und verstehe darunter eine Festigkeit in Geist und Herz, die nicht von der blinden Meinung, sondern von gesundem Urteilsvermögen und weiser Vernunft herrührt.
Pervicacia Ich möchte vor allem die Halsstarrigkeit (besser nennt man diese noch Starrsinn) davon unterschieden wissen. Diese ist zwar auch die Stärke eines entschlossenen Geistes, aber getragen vom Winde des Hochmuts und der Sucht nach Ruhm. Und Kraft ist sie höchstens zu einem geringen Teil: Die aufgeblasenen Starrköpfe können zwar nicht leicht geduckt, aber sehr leicht ermutigt werden. Sie verhalten sich nicht anders als ein Ledersack, der, wenn er vom Wind aufgeblasen wird, nur mit Mühe unter Wasser getaucht werden kann. Ein solcher Ballon drängt an die Oberfläche und springt aus eigenem Antrieb hervor. So ist die prahlerische Härte dieser Typen, die sich dauernd überschätzen. Diese Haltung hat ihren Ursprung in der Hoffart und damit in einer dümmlichen Fehleinschätzung.
Patientia Die wahre Mutter der Constantia ist nun die Duldsamkeit und Demut des Herzens.[18] Diese definiere ich als das freiwillige und klaglose Ertragen aller möglichen Dinge, die dem Menschen widerfahren und zustoßen.
Auf der Grundlage des richtigen Vernunftgebrauchs ist das jene eine Wurzel, auf die die Erhabenheit der edlen Kraft der Constantia gründet.
Doch sieh dich vor, dass dich die Einbildung nicht auch hierbei hinters Licht führt. Diese suggeriert oft anstelle der Duldsamkeit die Mutlosigkeit und Passivität eines kraftlosen Geistes. Dabei handelt es sich wahrhaftig um ein Laster,[19] das seinen Ursprung in mangelndem Selbstbewusstsein hat. Die Virtus – die charakterliche Vortrefflichkeit und Tauglichkeit – aber geht den Weg der Mitte.[20] Vorsichtig hütet sie sich davor, dass sie in ihren Handlungen unter- oder übertreibt. Die Virtus richtet sich allein nach der Waagschale der einen Vernunft. Jene hat sie als Richtschnur ihrer Prüfung und als Feuerprobe.
Recta Ratio Die weise Vernunft ist aber nichts anderes als das wahre Urteil und die verständnisvolle Einsicht in die menschlichen und göttlichen Dinge (insoweit letztere uns betreffen).
Opinio Die blinde Meinung oder Einbildung ist dem genau entgegengesetzt: ein unsicheres und trügerisches Urteil über eben dieselben Dinge.
C 1.5.24 Kapitel 5
Woher Vernunft und Einbildung ihren Ursprung haben.
Beider Kraft und Wirkung.
Die eine führt zur Geistesstärke,
die andere zum Wankelmut.
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a nun aus diesem doppelten Haupt (ich meine Einbildung
und Vernunft) nicht nur Stärke oder Schwäche des Geistes
entsteht, sondern alles, was wir in unserem Leben an Lob empfangen oder an Schuld auf uns laden, scheint es mir sinnvoll und nützlich, wenn ich über Ursprung und Wesen beider Aspekte ein wenig ausführlicher spreche.
Denn wie Wolle zuerst mit bestimmten anderen Flüssigkeiten vorbehandelt und getränkt werden muss, ehe sie ihre letzte und schönste Farbe einsaugt, so muss auch dein Geist mit dieser Einleitung vorbereitet werden, bevor ich ihn ernsthaft mit dem Purpur der Constantia färben werde.
Also – du weißt, es gibt im Menschen zwei Teile: die Seele und den Körper.[21] Jene ist edler, weil sie Ebenbild von himmlischem Geist und Feuer ist. Dieser ist unbedeutender, weil er die Erde widerspiegelt.
Beide sind zwar miteinander verbunden, aber in einer gewissen zwieträchtigen Harmonie – wie Feuer und Wasser. Sie können sich nur schwer einigen, besonders, wenn es um Befehl und Gehorsam geht. Denn herrschen wollen beide, erst recht der Teil, dem es nicht zukommt. Die Erde versucht, sich über ihr Feuer, der Schmutz sich über den Himmel zu erheben.
Von daher entstehen im Menschen Zwietracht und Unruhe sowie ein beharrlicher Kampf dieser miteinander in Zank und Streit liegenden Teile. Die Anführer und – sozusagen – Feldherren derselben sind Vernunft und Einbildung. Jene kämpft für die Seele und in ihr, diese streitet für den Körper und in ihm.
Die Vernunft stammt also vom Himmel, ja sogar von Gott ab. Seneca hat sie auf großartige Weise feierlich gewürdigt: „Die Vernunft ist der Teil des göttlichen Geistes, der in den Menschen hinein versenkt ist“.[22] Denn sie ist die besondere Kraft der Einsichtsfähigkeit und des Urteilsvermögens. Wie die Seele eine Vervollkommnung des Menschen darstellt, so ist die Vernunft dies für die Seele. Die Griechen haben sie „nous“ genannt, die Lateiner „mens“[23] oder auch – zusammen mit dem weiteren Be
griff für „Seele, Geist, Verstand“ – als „mens animi“ bezeichnet.
Recta Ratio Nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Nicht die ganze Seele ist von der vollkommen richtigen Vernunft erfüllt, sondern nur das in ihr, was einförmig, einfach, unvermischt und von allem Dreck abgeschieden ist – um es mit einem Wort zu sagen, das Sternenhelle und Himmlische der Seele. Denn obwohl die Seele selbst durch den Sündenfall des Körpers und den schlechten Einfluss der Sinne schwer entstellt und befleckt ist, so behält sie dennoch in ihrem Kern die Spuren ihres Ursprungs, und hell leuchten ihr die übrig gebliebenen Funken ihres vornehmsten und reinen Feuers.
C 1.5.25 Daher gibt es auch bei bösen und verachtenswerten Menschen die Stacheln des Gewissens; daher stammt die innere Geißel der Gewissensbisse; daher kommt die Anerkennung eines besser geführten Lebens, die den Übeltätern gegen ihren Willen abgenötigt wird.
Der verständigere und heiligere Teil der Seele kann zwar unterdrückt, aber nicht erstickt werden, die lodernde Flamme kann verdeckt, aber nicht ausgelöscht werden. Denn die Funken glänzen und glitzern immer wieder hervor, sie erleuchten unsere Finsternis, sie reinigen die Kloaken unseres unzufriedenen Lebens, sie zeigen uns den rechten Weg und führen uns zu Geistesstärke und
Constantia charakterlicher Tüchtigkeit. Wie der Vanillestrauch – oder
und Virtus Heliotrop – und einige andere Pflanzen gemäß ihrer Naturanlage immer der Sonne zugewendet sind, so richtet sich die Vernunft immer auf ihren Ursprung: Gott.
Ratio Sie ist fest und unerschütterlich im Guten, sie denkt immer ein und dasselbe, entweder strebt sie ein bestimmtes Ziel an oder flieht es.[24] Die Vernunft ist der Quell der richtigen Einsicht und des richtigen Urteils. Ihr zu gehorchen bedeutet herrschen, sich ihr zu unterwerfen heißt, allen menschlichen Angelegenheiten überlegen zu sein. Jeder, der ihr gehorcht, hat seine Begierden und übermütigen Gemütsregungen im Griff. Jeder wandelt sicher in allen Labyrinthen des Lebens, der der Ratio folgt wie Theseus dem Faden der Ariadne.[25] Gott selbst kommt durch die Vernunft, seinem Abbild, zu uns, vielmehr noch, was wesentlich ist, in uns hinein. Und jener, wer immer es auch sagte, hatte recht: „Ohne Gott gibt es keine gute Gesinnung.“[26]
Opinio Der folgende und ungesunde Teil hingegen (hier meine ich jetzt die Einbildung) verdankt seinen Ursprung dem Körperlichen, d.h. dem Irdischen; deshalb kennt und versteht er auch nur dieses. Der Körper an sich ist unbeweglich und empfindungslos. Doch er erhält Leben und Bewegung von der Seele, und umgekehrt liefert er der Seele durch das Fenster der Sinne die Bilder der weltlichen Dinge.[27]
So gibt es eine gewisse Gemeinschaft und Allianz zwischen Seele und Körper. Es handelt sich dabei aber um eine Verbindung, die, wenn du dir das Resultat anschaust, der Seele nicht sonderlich zuträglich ist. Denn sie wird durch die Vereinigung mit dem Körper allmählich ihrer Würde beraubt, den Sinnen preisgegeben und mit diesen vermischt. Aus dieser unreinen Verbindung nun entsteht in uns die Einbildung, die nichts anderes als das nichtige Abbild und der trügerische Schatten der Vernunft ist.
Sie wohnt in den Sinnen, aber sie entstammt dem Irdischen, deshalb ist sie verächtlich und wertlos, sie richtet sich nicht in die Höhe, sie wächst nicht empor, sie schaut nichts Erhabenes oder Himmlisches. Sie ist eitel, unsicher und trügerisch; sie ist ein schlechter Ratgeber und urteilt unsachgemäß. Vor allem beraubt sie den Geist der Stärke, Standhaftigkeit und Wahrheit. Die Einbildung begehrt heute dies, morgen verwirft sie es, sie billigt bald das, dann verflucht sie es wieder. Nichts gestattet sie dem verständigen Urteilsvermögen, sondern überlässt alles dem Körper und den Sinnen. Und wie das Auge, das durch Nebel oder Wasser schaut, die Dinge falsch einschätzt, so irrt der Geist, der durch den Schleier der Opinio blickt.[28]
C 1.5.26 Die Einbildung ist, wenn du sorgfältig überlegst, die Mutter aller menschlichen Übel, sie ist Anlass eines verstörten und verwirrten Lebens, das uns aus der Fassung geraten lässt. Welche Sorgen uns auch quälen – sie stammen von ihr; ob Affekte uns hierhin und dann dorthin ziehen – sie ist schuld; ob Laster uns beherrschen – rührt von ihr her.
Wenn man die Tyrannis, unter der man gelitten hat, aus der Stadt vertreiben will, nimmt man zuallererst die Schaltzentrale der Macht ein und vernichtet sie. Daher müssen auch wir, wenn wir ernsthaft zu einer wirklich guten Gesinnung kommen wollen, die Trutzburg der Einbildung niederreißen. Denn mit ihr werden wir ansonsten stets im Ungewissen treiben – weinerlich klagend oder innerlich aufgewühlt – aber weder mit Gott noch der Welt zufrieden. Wie einem völlig leeren Schiff, das auf hoher See vom Wind hin und her geworfen wird, so geht es uns mit einem unbeständigen Geist, den nicht das Gewicht und damit der Ballast der Vernunft stabilisiert.
C 1.6.26 Kapitel 6
Das Lob der Constantia,
verbunden mit einer ernsthaften Ermahnung,
sie zu erstreben.
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ie du siehst, Lipsius, ist der ständige Begleiter der Einbil-
dung der Wankelmut; dagegen folgt der Vernunft die
Geistesstärke. Ich rate dir mit aufrichtigem Ernst, deinen Geist mit ihr zu kleiden. Was schlägst du dich mit nichtigen und äußerlichen Dingen herum? Die Constantia ist die einzige Helena, die dir das wahre und wirkliche Nepenthes[29] vor Augen stellt, in dem du aller Sorgen und Schmerzen ledig sein wirst. Wenn du dir dieses einmal so richtig angeeignet und einverleibt hast, wirst du über den Dingen stehen und aufrecht gegen jeden dummen Zufall gewappnet sein. Für immer wirst du ausgeglichen sein, nicht wie auf einer Waage auf- und abschweben. Du wirst dir jene Größe sichern, die dem Göttlichen am nächsten kommt: nämlich durch nichts, aber auch gar nichts aus der Ruhe gebracht zu werden. Hast du nicht jene hoch geistvolle und beneidenswerte Losung gesehen, die einige Könige heutzutage zu ihrer Lebensregel gemacht und in ihr Wappen aufgenommen haben:[30] ‘Weder durch Versprechungen noch durch Drohungen’?[31] Auch für dich trifft zu: Der ist wahrhaft ein König, wahrhaft frei, der allein Gott Untertan ist und völlig frei vom Joch der Affekte und der schicksalhaften Umstände.
Es heißt, bestimmte Flüsse finden ihren Weg mitten durchs Meer, ohne jedoch die wesentlichen Eigenschaften ihres Wassers zu verlieren. Ebenso wirst du durch die Unruhen kommen, die dich umgeben, ohne irgendwelches Salz aus diesem Meer der Trübsal zu ziehen.
Du liegst am Boden? Die Constantia wird dich wieder aufrichten! Du wankst? Sie wird dich stützen! Die Constantia wird dich stärken und von der Schwelle zum Tod wegführen! Zieh dich nur am eigenen Schopf aus dem Übel und richte dich auf, und lenke dein Schiff in den Hafen, wo Geborgenheit und Friede zu Hause sind. Dort ist deine Zuflucht, dein Asyl von allen Wirren und Sorgen.
C 1.6.27 Wenn du diesen Punkt einmal voll Vertrauen erreicht hast, dann mag dein Vaterland nicht bloß von Unruhen heimgesucht sein, es kann sogar in sich zusammenfallen, du selbst wirst dennoch unerschütterlich fest stehen. Regenschauer mögen um dich herum prasseln, Blitze zucken und Donner grollen; Du wirst mit aufrichtiger und lauter Stimme rufen: Inmitten aller Wogen bin ich ruhig und gefaßt.“[32]
[1] Vir. „Unglück des Niederlandes“.
[2] „Genius patriae“.
[3] Das Geschlecht des Pelops (Sohn des Tantalos) steht hier synonym für Mord und Totschlag.
[4] „Chalybs“.
[5] Die Affekte sind nach der stoischen Affektenlehre als Triebe zu betrachten, die der Lenkung der Vernunft entgleiten, s. K. Beuth, Weisheit und Geistesstärke, Frankfurt a.M. 1990, S. 50ff. (im folgenden kurz „Weisheit“).
[6] Vgl. Sen. ep. XXVIII, ep. CIV, bes. 13ff.
[7] Vergil, Aeneis IV 70-73.
[8] „et eo vilitatis lapsa est“; von einem früheren Leser des Originaldrucks sind im Text Unterstreichungen bzw. Korrekturen vorgenommen worden. So ist aus dem ursprünglichen „Vtilitatis“ (zu lesen ‘utilitatis’) das erste „t“ gestrichen worden.
[9] Zur Unterscheidung der Affekte s. Weisheit S. 57, bes. Anm. 27.
[10] Horaz, Carm. III 1.40.
[11] Sen. ep. CIV. 7, Lipsius paraphrasiert: „Non enim te deseruisti.“ Bei Seneca heißt es: „non immerito hoc tibi evenit; tecum enim peregrinabaris.“
[12] „Veros animi morbos“ werden hier streng im stoischen Sinne wiedergegeben, nicht als Beeinträchtigungen des Gemüts, sondern als Wahnsinn im klinischen Sinne (vgl. Weisheit, S. 16).
[13] „Pannoniam“.
[14] Vergil, Aen. III. 282-283.
[15] „dolor“ = Schmerz, Trauer, Trübsal etc. steht hier im allgemeinen für die Auswirkung der Affekte.
[16] Zu den philosophischen Dimensionen der Begriffe s. Weisheit S. 17f., S. 176ff., S. 184ff.
[17] Aischylos, Der gefesselte Prometheus. Hesiod, Theogonie 507-616; Erga 47-105 u.a.
[18] „Demissio animi“ kann hier aus logischen Gründen nicht mit einer Form der Niedergeschlagenheit wiedergegeben werden.
[19] „Vitium“, s. dazu Weisheit S. 48ff.
[20] Nach der Mesotes-Lehre des Aristoteles, s. Weisheit S. 186.
[21] S. dazu Weisheit S. 50ff.
[22] Sen. ep. 66.12, s. Weisheit S. 52 , Anm. 14.
[23] So und natürlich „ratio“ (Anm. des Übersetzers).
[24] S. Weisheit S. 53.
[25] S. Plutarch, Parallelviten „Theseus und Romulus“, vgl. Homer, Odyssee XI 321-325 u.a.
[26] Sen. ep. 73.16, vgl. Sen. ep. 41.2 und Weisheit S. 54 u. dort Anm. 19.
[27] S. Weiheit S. 54, Anm. 21 zum Wechselspiel von Körper und Seele.
[28] S. Weisheit S. 56 und Anm. 25.
[29] Nepenthes (nhpenqhs = ohne Trauer, leidstillend)
[30] „in scitis et scutis“ – etwa: „in ihren Beschlüssen und Schilden“.
[31] „Nec spe nec metu“, „spe“, Versprechungen als Gegenstände der Hoffnung, „metu“, Drohungen als solche der Furcht.
[32] Vgl. Weisheit, S. 18 und Anm. 28.