– 1 –
C 1.13.39 Kapitel 13
Wie man die Nöte der öffentlichen Übel leichter erträgt oder völlig ignoriert. Mit vier besonderen Argumenten werden selbige bekämpft. Zunächst wird von der Vorsehung (Providentia)[1] gehandelt. Es wird gezeigt, dass diese in allen menschlichen Dingen wirkt und sie beherrscht.
D
enn endlich schreite ich vom Scharmützel und Vorgeplän-
kel zur wahren und ernsthaften Schlacht. Ich lege die
leichte Bewaffnung ab, verzichte auf jegliche Spielereien und greife zu den Waffen, die die Entscheidung herbeiführen sollen. Ich werde alle meine Truppen geordnet unter ihren Feldzeichen heranführen. Ich werde mein Heer in vier Bataillone aufteilen:
Mit dem ersten werde ich dafür streiten, dass alle öffentlichen Übel von Gott gesandt sind.[2] Mit dem zweiten, dass sie notwendig und vom Schicksal bestimmt sind.[3] Mit dem dritten trete ich dafür ein, dass sie uns Nutzen bringen.[4] Schließlich und endlich werde ich zeigen, dass die öffentlichen Plagen und Übel weder schwer noch neu sind.[5] Wenn diese Truppen alle an ihrem Platz geschickt kämpfen und tapfer die gegnerischen Angriffe zurückschlagen, glaubst du, dann wird mir das Heer deiner Leiden noch zu widerstehen wagen oder die Frechheit besitzen, mir die Stirn zu bieten? Es wird nicht, und dann habe ich gesiegt; und unter diesen Voraussetzungen werden alle Streiter jubeln.
Affekte als Gei- Weil nun alle Affekte, Lipsius, die das menschliche Leben
steskrankheit auf vielfältige Weise betreffen und in Unordnung geraten lassen, von einem kranken Geist herrühren, dann stammt von dort meines Erachtens vor allem der Schmerz, der wegen öffentlicher und politischer Angelegenheiten entsteht.
Während die übrigen Affekte alle irgendeinen Sinn und Zweck verfolgen (Liebe sucht Macht über ihr angestrebtes Ziel, der Zorn die Rache, die Habgier Bereicherung und so fort), findest du bei diesem allein keinen anderen Sinn als das Leiden um seiner selbst willen.
Aber ich will nicht abschweifen und mich in meinen Ausführungen verzetteln, sondern die Zügel straff anziehen und innerhalb unseres Themenkreises bleiben:
Ohnmacht der Wie du behauptest, betrauerst du also dein Vaterland, das dem
Trauer Untergang geweiht ist. Aber mit welcher Absicht? Komm, sag an! Was ist deine Hoffnung, was deine Erwartung? Willst du etwa den Zusammenbruch aufhalten? Willst du den Verzagenden Mut zusprechen? Oder hoffst du vielleicht, durch dein Leiden eine drohende Pest und Seuche aus Belgien zu vertreiben?
Nichts von alledem!
Es geht einzig darum, den abgeschmackten Ausspruch tun zu können: „Oh, ich leide!“
Im Übrigen ist diese ganze Trauer irrig und umsonst. Denn sie richtet sich auf eine Sache, die vorbei ist. Nicht einmal den Göttern ist es vergönnt, geschehene Dinge ungeschehen zu machen.[6]
Und so ist es nur vergebens, Trauer zu tragen? Es ist sogar frevelhaft, wenn du die Frage recht abwägst.
Gottes ewige Denn du weißt genau: Es gibt einen ewigen Geist,[7] den wir Gott
Vorsehung nennen. Dieser lenkt die permanenten Kreisläufe am Himmelsgewölbe, die unstete Bahn der Gestirne und alle anderen
C 1.13.40 Wechsel der Elemente; dieser Geist leitet, regiert und führt schließlich alle Dinge, seien sie oben am Himmel oder unten auf der Erde, ihrer Bestimmung zu.
Glaubst du vielleicht, Zufall oder Glücksgöttin Fortuna herrschten in diesem wunderbaren Weltall? Oder denkst du, die menschlichen Geschicke würden durch einen gedankenlosen und blinden Anstoß bewegt und verwirrt?
Ich weiß ja, du denkst nicht so; und außer dir auch kein anderer, der auch nur ein Fünkchen – ich will nicht sagen Weisheit – aber doch gesunden Menschenverstand hat. Denn es ist die Stimme der Natur, unserer Natur, die uns sagt: Wohin auch immer du Augen und Verstand wendest, Sterbliches und Unsterbliches, in der Luft und auf der Erde, Beseeltes und Unbeseeltes – alles ruft hell und klar und verkündet, dass es etwas gibt, jenseits unserer Kraft, das dies so Wunderbare und Großartige, dies so Vielfältige geschaffen und gemacht hat. Und das Geschaffene und Gemachte lenkt und bewahrt der Schöpfer. Der aber ist Gott, dessen höchstem und vollkommenstem Wesen nichts mehr entspricht, als dass er für sein Werk Sorge tragen und es beschützen will und dies auch vermag.
Warum sollte er nicht wollen? Er ist doch der Beste.
Gottes Macht Warum sollte er nicht können? Er ist doch der Größte. Es gibt keine Mächte über ihm, so dass es keine Macht gibt, außer von ihm.
Die Größe und Verschiedenheit der Dinge bereitet ihm keine Probleme und macht ihm keine Mühe. Denn sein ewiges Licht streut seine Strahlen nach allen Seiten hin, und, wenn ich so
sagen darf, in einem einzigen Augenblick durchdringt es alle Windungen und Abgründe des Himmels, der Erde und des Meeres. Diese Göttlichkeit ist nicht nur über den Dingen, sondern zwischen ihnen, ja sogar in ihnen.
Was verwundern wir uns? Einen wie großen Teil der Welt kann die Sonne mit einem Mal erleuchten und erhellen? Welche Menge von Dingen erfasst dagegen unser Verstand mit einem einzigen Gedanken, einer einzigen Wahrnehmung? Wir Narren, müssen wir nicht davon ausgehen, dass der noch viel mehr schauen und erkennen kann, der diese Sonne, der diesen Verstand erschaffen und gemacht hat?
Aristoteles, der sich sonst selten über göttliche Dinge äußert, bemerkt dazu in vorzüglicher oder gar gotterfüllter Weise: ‘Was der Steuermann auf einem Schiff ist, der Wagenlenker auf einem Gespann, der Führer in einem antiken Chor,[8] das Gesetz in der Stadt, der Feldherr im Heer – das ist in der Welt Gott. Nur mit dem feinen Unterschied, dass jenen ihr Regiment Angst und
C 1.13.41 Mühe bereitet. Gott aber ist frei von Qual und Mühe und fern jeder körperlichen Anstrengung.’[9]
Providentia – In Gott, Lipsius, nun ist, war und wird für alle Zeit sein: eine
Vorsehung stets wachende und immer währende Fürsorge. (Es ist zwar eine Sorge, und dennoch ist sie ohne Sorge.) Durch sie sieht er alle Dinge an, er nähert sich ihnen und erkennt sie. Das Erkannte lenkt und regiert er dann durch eine Ursachenkette, die unveränderlich ist und uns verborgen bleibt. Das ist es aber, was ich hier die Vorsehung nenne.
Über sie mag mancher aus Schwäche klagen, erforschen kann sie niemand. Sollte es einer versuchen, müsste er den Verstand verloren haben und völlig taub und gefühllos gegenüber Stimme und Empfindung der Natur sein.
C 1.14.41 Kapitel 14
Alles geschieht auf Geheiß der Vorsehung:
auch der Untergang von Völkern und Städten.
Folglich steht es uns nicht zu, über sie zu klagen oder zu weinen.
Schließlich eine Mahnung zum Gehorsam gegen Gott. Ein Kampf gegen ihn ist aussichtslos.
W
enn du diese Lehre richtig aufgenommen hast und von
ganzem Herzen glaubst, dass jene herrschende Kraft der
Vorsehung alles durchdringt, in allem wirkt und, um es mit dem Dichterwort zu sagen, ‘alle Lande und Wasser durcheilt’, sehe ich nicht ein, welchen Stellenwert dein Schmerz und dein Klagen noch haben sollen.
Urheberschaft Jener fürsorgliche Geist bestimmt täglich die Umwälzung an
Gottes diesem Himmel da, er lässt die Sonne auf- und niedergehen und regiert so über Tag und Nacht, er erzeugt und schützt Früchte und Nahrung. Er bringt all diese Erscheinungen hervor und verursacht die Veränderung aller Dinge, worüber du dich wunderst und beklagst.
Glaubst du denn, dass uns nur Annehmlichkeiten und Streicheleinheiten vom Himmel zugesandt werden? Nein, da gibt’s Trauriges und Unglück! Überhaupt wird nichts in dieser großen Maschinerie des Kosmos bewegt, in Aufruhr versetzt oder angeregt, das nicht seinen Grund und Ursprung in der ersten aller Ursachen hat,[10] – Die Sünde nehme ich davon aus. –
‘Alles, was geschieht, hat seine Verwaltung im Himmel’, sagt Pindar zutreffend. Homer kleidet es in eine Fabel, wenn er sagt, es sei eine goldene Kette von da oben herabgelassen, an die alles hier auf Erden geknüpft sei.
Wenn irgendwo ein Erdrutsch ganze Städte verschlungen hat, rührt das von der Vorsehung her. Wenn anderswo die Pest viele tausend Menschen dahinrafft, kommt dies von ihr; Mord, Krieg und Tyrannei in Belgien entstammen derselben Kraft.
C 1.14.42 Von Gott, Lipsius, von Gott werden alle diese Unglücke geschickt. So steht schon klug und weise bei Euripides: ‘Die Geschicke sind von Gott verhängt.’ Der Fluss aller menschlichen Dinge, sage ich dir, hängt ab von jenem Mond, Aufstieg und Untergang der Königreiche von jener Sonne.
Empörung gegen Wenn du also die Zügel deines Schmerzes schießen lässt und
Gott dich darüber empörst, dass es in deinem Vaterland drunter und drüber geht, denkst du dann auch mal daran, wer sich da gegen wen auflehnt? Wer? Ein Mensch, ein Schatten, ein Staub. Gegen wen? Ich wage es kaum zu sagen: gegen Gott!
Im Altertum gab es die Geschichte von den Titanen, die die Götter angriffen, um sie vom Olymp zu verjagen. Übertragen wir diese Geschichte mal auf die heutige Zeit, dann tretet ihr Querulanten an deren Stelle. Denn, wenn das alles, was uns widerfährt, von Gott nicht nur zugelassen, sondern sogar gesandt wird, was tut ihr dann, wenn ihr aufbegehrt und Widerstand leistet, anderes, als dass ihr ihm (sofern ihr es vermögt) das Zepter entreißt, in der Absicht, selbst die Herrschaft zu führen? Oh, Blindheit der Sterblichen! Sonne, Mond und Sterne, die Elemente und alles Lebendige gehorcht allzeit freiwillig und unterwirft sich dem höchsten Gesetz. Das vornehmste der Geschöpfe aber, der Mensch, löckt wider den Stachel und leistet Widerstand. Aber, wenn du die Segel gesetzt hast, folgst du doch auch dem Wind und nicht deinem Willen; und auf diesem Ozean des Lebens weigerst du dich, dem Geist zu folgen, der das ganze Universum regiert? Dennoch ist dein Aufbegehren vergeblich: Entweder du folgst, oder du wirst gezogen. Die Beschlüsse Gottes behaupten ihre Kraft und Ordnung – entweder gegen den Bereitwilligen
oder den Rebell.[11] Lachen wir nicht auch, wenn jemand einen Kahn an einen Felsen bindet und glaubt, wenn er an dem Tau zieht, würde der Felsen auf ihn zukommen anstatt umgekehrt? Ist unsere Dummheit nicht noch größer, wenn wir, an jenen Felsen der ewigen Vorsehung gefesselt, statt der Providentia zu folgen, durch Ziehen und Sträuben bewirken wollen, dass diese uns gehorcht?
Wollen wir doch einmal diesen ganzen Unsinn lassen! Wenn wir klug sind, werden wir der Kraft, die von oben zieht, folgen. Wir werden es dann für angemessen halten, dass dem Menschen gefalle, was Gott gefallen hat.
Der Soldat im Feldlager greift, wenn er das Zeichen zum Aufbruch hört, sein Gepäck; hört er das Signal zur Schlacht, legt er es ab. Dann ist er mit Herz, Augen und Ohren, voll Eifer bereit für den Befehl des Feldherrn. So wollen wir es auch halten! Freudig und im Sturmschritt wollen wir unserem Imperator folgen, wohin er uns auch ruft.
‘Auf diesen Eid’, sagt Seneca, ‘sind wir eingeschworen, das zu ertragen, was uns im Leben widerfährt, und uns nicht aus der Ruhe bringen zu lassen durch solches, dem aus dem Weg zu gehen, nicht in unserer Macht steht. Wir sind in ein Königreich hineingeboren: Gott zu gehorchen, das ist Freiheit!’[12]
C 1.15.43 Kapitel 15
Das zweite Argument für die Geistesstärke:
die Notwendigkeit (Necessitas).
Ihre Macht und Gewalt in zweifacher Hinsicht,
zunächst in den Dingen selbst.
D
as, Lipsius, ist der starke Schild – wie von Vulkan selbst
geschmiedet – gegen alle äußeren Einflüsse. Das ist die
C 1.15.43 güldene Waffe, unter deren Schutz uns Platon heißt, gegen Zufall und Glück zu kämpfen. Wir sollen uns Gott unterwerfen, Gottes gedenken und bei allem, was sich ereignet, unseren Geist hinlenken zu dem mächtigen Weltgeist. Diesen nenne ich hier Vorsehung – Providentia. Von deren tapferen und erfolgreichen Truppen habe ich nun genug gehandelt. Deshalb führe ich nun einen
Notwendigkeit anderen Heerbann, der unter der Fahne der Notwendigkeit
(Necessitas) Necessitas steht, ins Feld. Dabei handelt es sich um einen starken, harten und eisernen Haufen, den ich nicht ohne Grund die donnernde Legion nenne. Ihre Kraft ist unbeugsam,[13] sie bändigt und überwindet alles. Es sollte mich wundern, Lipsius, wenn du der widerstehst.
Als Thales einst gefragt wurde, welche die stärkste Macht wäre, hat er korrekt geantwortet: ‘Die Notwendigkeit, denn sie beherrscht alles.’[14] Über sie gibt es auch noch ein weiteres altes Wort, das allerdings kaum ehrfurchtsvoll genannt werden kann: ‘Selbst die Götter haben keine Gewalt über die Notwendigkeit.’ Sie füge ich nun der Vorsehung bei. Denn sie ist jener verwandt oder, um es genauer zu sagen, sie ist aus der Vorsehung hervorgegangen. Die Necessitas oder Notwendigkeit entspringt Gottes Ratschluss und ist somit genau, wie der griechische Philosoph sie definiert, ‘eine feste Entscheidung und unwandelbare Macht der Vorsehung’.[15]
Ich werde auf zweifache Weise und unumstößlich beweisen, dass die Providentia maßgeblich auf die öffentlichen Plagen einwirkt. Die Untersuchung richtet sich auf die weltlichen Dinge einerseits und auf das von Gott verhängte Schicksal oder Fatum[16] andererseits.
Zunächst zu den Dingen selbst: Denn allem Erschaffenen ist es eigen, dass eine bestimmte innewohnende Kraft zu Veränderung und schließlich zum Untergang führt. Wie Eisen von Natur aus vom Rost zerfressen wird, Holz von Fäulnis oder dem Holzwurm,[17] so tragen auch alle Lebewesen, Städte und Königreiche die inneren Ursachen ihres Todes in sich.[18]
Schau nach oben oder unten, sieh dir die großen oder kleinen Dinge an: Alles, was von Hand gemacht oder vom Geiste erdacht, ist seit Menschengedenken vergänglich und wird für alle Zeit vergänglich sein. Wie die Flüsse in ewigem Lauf dem Meer entgegen stürzen, so fließen alle menschlichen Dinge durch diesen – ich möchte mal sagen – Kanal der Leiden ihrem vorbestimmten Ziel zu. Das Ziel ist Tod und Untergang, dessen
C 1.15.44 Zuträger und Werkzeuge sind Pest, Krieg und Totschlag. Wenn also für die Menschen der Tod eine Notwendigkeit darstellt, sind unter diesem Gesichtspunkt auch die Unglücke nötig.
Damit du dies anhand von Beispielen etwas deutlicher erkennen kannst, so will ich gern mal Verstand und Phantasie bemühen, um mit dir eine kleine Reise durch dieses Universum zu unternehmen.
C 1.16.44 Kapitel 16
Beispiele notwendiger Veränderung in der ganzen Welt.
Umwälzung des Himmels, Veränderung des
Stofflichen und zukünftiger Untergang.
Dazu Beispiele aus Städten, Ländern und Königreichen.
Schließlich der Kreislauf und die Unbeständigkeit des Seienden.
E
in ewiges Gesetz ist seit Anbeginn der Zeit der ganzen Welt
auferlegt: Geburt und Tod, Entstehen und Vergehen regeln
das Sein. Der Herrscher aller Dinge wollte, dass nichts fest und unverrückbar sei – außer ihm selbst. Wie rief doch einst der Tragödiendichter Sophokles: ‘Allein die Götter[19] werden nicht alt, niemals ereilt sie der Tod. Alles andere aber hat der Allgewaltige unter das Diktat der Zeit gestellt.’
Kosmische Ver- Alles, ob du es mit Verwunderung oder Verehrung betrachtest,
änderungen vergeht nach einer bestimmten Zeit; mit Sicherheit macht es aber eine Veränderung durch.
Siehst du die Sonne da? Sie geht unter. Den Mond? Er schwindet in der Mondfinsternis dahin. Die Sterne? Sie gleiten dahin und versinken. Und mag der menschliche Geist diese Phänomene auch kaschieren und schönreden, dennoch sind in jenem Kosmos Dinge geschehen und werden in Zukunft geschehen, die die ganzen Gesetzmäßigkeiten der Astrologen aus den Angeln heben und woran sie noch den Verstand verlieren. Die Kometen, ihre unterschiedliche Form, Stellung und Bewegung will ich hier einmal beiseite lassen. Dass diese aber alle aus der Luft entstammen und in ihr sich bewegen, wird mir so leicht keine Schule weismachen. Aber schau nur, noch vor kurzem haben Himmelsbewegungen und neue Sterne, die sie entdeckten, den Astronomen schweres Kopfzerbrechen bereitet. Erst in diesem Jahr ist ein Stern aufgegangen, dessen Zu- und Abnahme deutlich zu beobachten war. Wir sehen (kaum zu glauben), dass am Himmel selbst etwas entstehen und untergehen kann. Sieh nur, wie Varro bei Augustinus ruft und behauptet, der Abendstern, die Venus, die Plautus Vesperus, Homer Hesperos nennt, habe Farbe, Größe und Gestalt verändert.
Geophysische Ver- Untersuche nur die Luft, die dem Himmel am nächsten ist: Sie
änderungen verändert sich täglich in Wind, Wolken und Regen. Geh zu den
C 1.16.45 Wassern: zu den Flüssen, die wir ewig nennen, und den Quellen, die einen wirst du ausgetrocknet vorfinden, die anderen haben ihr Flussbett oder ihren Wasserlauf geändert. Selbst der Ozean, ein großes und geheimnisvolles Schaubild der Natur, wird durch Unwetter aufgewühlt oder zurückgedrängt, aber auch wenn diese Naturgewalten nicht herrschen, gibt es immer noch den Wechsel von Ebbe und Flut. Damit du einen Eindruck davon bekommen kannst, dass es einst völlig verschwinden kann, wächst es um bestimmte Teile täglich an oder weicht zurück.
Wenn du dir nun die Erde anschaust – einst wollte man, sie solle als in sich ruhende Kraft unverrückbar fest stehen -: Sie schwankt und wird durch Beben von verborgenen Kräften erschüttert, anderenorts wird sie von Wasser oder Feuer verzehrt. Aber auch letztere kämpfen gegeneinander. Deshalb brauchst du dich nicht über die Kriege der Menschen aufzuregen. Kriege herrschen auch unter den Elementen. Wie viel Land haben Sturmfluten und Überschwemmungen vermindert oder ganz verschlungen?
Einst die große Insel Atlantis (denn ich glaube nicht, dass es sich hierbei um eine Legende handelt), später Helike[20] und Buren.
Aber wir brauchen nicht in alte und ferne Zeiten abzuschweifen, wurden doch zu unserer Väter Zeiten bei uns in den Niederlanden – in Zeeland –[21] zwei Inseln mit Mann und Maus hinweggerafft. Und auch jetzt noch eröffnet sich jener blau schimmernde Gott des Meeres mit Macht neue Buchten, indem er täglich die unsicheren Gestade der Friesen[22] umspült und hinweg nimmt.
Aber auch die Erde selbst verharrt nicht in weibischer Untätigkeit, sondern rächt sich zuweilen und schafft sich mitten im Meer neue Inseln, auch wenn sich der alte Vater Poseidon darüber wundert und erzürnt.
Vergänglichkeit Wenn nun jene gewaltigen Körper, die unserer Wahrnehmung
menschlicher Werke erscheinen, als seien sie ewig, zu Untergang und Veränderung bestimmt sind, was glaubst du, geschieht dann mit Städten, Staaten und Königreichen? Die müssen doch so vergänglich sein wie die, die sie gemacht haben. Der einzelne Mensch ist in seiner Jugend mit Kraft gesegnet. Wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hat, stirbt er. Ebenso verhält es sich auch mit den menschlichen Errungenschaften: Sie haben einen Anfang, wachsen, stehen fest und blühen auf – und all das, damit sie einmal vergehen.
Zur Zeit des Tiberius hat ein Erdbeben zwölf berühmte Städte Asiens vernichtet, eben so viele Städte Campaniens verwüstete ein Beben zur Zeit des Kaisers Konstantin. Ein einziger Krieg, den Attila führte, aber traf mehr als hundert.
Vom alten Theben in Ägypten ist kaum noch Kunde erhalten, und an den Untergang von hundert Städten auf Kreta mag man kaum noch glauben. Aber ich will zu gesicherteren Erkenntnissen kommen: So haben schon in alter Zeit die Menschen mit Verwunderung feststellen müssen, dass Karthago, Numantia oder Korinth in Trümmern lagen. Und wir sehen jetzt die kläglichen Ruinen Athens, Spartas und so vieler berühmter Städte.[23] Und wo ist sie, die Herrin von Staaten und Völkern, die vermeintlich
Rom Ewige Stadt? Verschüttet, zerstört, gebrandschatzt und überflutet. Sie starb so manchen Tod, und heute wird mit Ehrgeiz nach ihr geforscht. Doch in ihrem eigenen Boden ist sie nicht zu finden.
C 1.16.46 Siehst du dort Byzanz, dem es angelegen ist, gleich zweier Reiche Hauptsitz zu sein.[24] Oder da Venedig, das sich tausendjähriger Stärke brüstet? Auch deren Tag wird kommen. Und du, unser Antwerpen, Perle unter den Städten, wirst einmal nicht mehr sein.
Der große Architekt zerstört und baut auf und spielt – wenn man so sagen darf – mit den menschlichen Dingen. Gleich einem bildenden Künstler entwirft er sich verschiedene Formen und Bilder aus seinem Tonmaterial und ändert sie dann wieder um.
Staaten und Reiche Bisher habe ich ja nur von Städten geredet, aber auch ganze Königreiche und ihre Provinzen wurden in den Sog des Unterganges hineingezogen. So erblühte einst der Orient: Assyrien, Ägypten und Judäa waren stark an Streitmacht wie an geistigen Errungenschaften. Dieses Glück ist auf Europa übergegangen, das mir jetzt allerdings selbst wie ein wankender Körper zu erzittern scheint und einen Vorgeschmack seines künftigen Falls verspürt.
Weltuntergang Des Weiteren können wir uns gar nicht genug darüber verwundern, dass auch unsere Erde als solche, seit fünftausendfünfhundert Jahren bewohnt, altersschwach wird. Um also der Erzählung des Anaxarchos, die einst ausgepfiffen wurde, noch einmal Beifall zu spenden: Anderswo entsteht eine neue Welt, und neue Menschen wachsen nach.
Oh, du wunderbares und nie völlig zu begreifendes Gesetz der Notwendigkeit! Alles vergeht in diesem schicksalhaften Kreislauf von Geburt und Tod. Und mag auch etwas in dieser Maschinerie von langer Dauer sein, nichts ist ewig.
Abschluss der Erhebe die Augen und schau dich mit mir um (denn es macht mir
Beispiele nichts aus, dieses Thema noch weiter zu strapazieren) und betrachte die Wechselfälle der menschlichen Dinge. Sie sind wie die Fluten des Ozeans: Du – erhebe dich; du – falle wieder. Du – herrsche; du – diene. Du – halte dich verborgen; du – komme hervor. So läuft dieser in sich wiederkehrende Kreislauf der Dinge, solange der Erdkreis selbst bestehen wird.
Ihr Germanen wart einst wild und ungezähmt? Dann reifet jetzt und werdet milder als die meisten Völker Europas. Ihr Briten wart unkultiviert und arm? Dann übertrefft jetzt sogar die
Ägypter und Sybariten[25] an Genüssen und Wohlstand. Griechenland stand einst in Blüte? Dann mag es eben nun darniederliegen. Italien hat einmal das Zepter in der Hand gehalten? Dann soll es jetzt anderen dienen. Ihr Goten, ihr Vandalen, ihr Gärteig der Barbaren, kommt aus der Versenkung hervor und gebietet abwechselnd den Völkern. Kommt auch ihr herbei, ihr fellbekleideten Skythen,[26] und lenkt mit starker Hand für eine kurze Zeit die Geschicke Asiens und Europas. Aber macht auch ihr euch demnächst aus dem Staub und überlasst nur die Herrschaft jenem Volk am Ozean. Denn liege ich da so falsch? Oder sehe ich von Westen her schon die Sonne eines neuen Reiches aufgehen?“
C 1.17.47 Kapitel 17
Die Notwendigkeit aus dem Schicksal (Fatum)[27]
Erstens: Bestätigung der Wirksamkeit des Schicksals.
Darüber Übereinstimmung von Philosophen und Volksmeinung im Allgemeinen,
Unterschiede in den Einzelaspekten.
Dann: Vielfalt der Ansichten über das Fatum bei den Alten.
S
o hatte Langius gesprochen; und mit seiner Rede hatte er
mir fast die Tränen in die Augen getrieben. Mit einem Mal
schienen mir die nichtigen Spielformen der menschlichen Angelegenheiten deutlich vor Augen zu treten.
„Hei“, rief ich laut: „Was sind wir eigentlich? Oder was ist all das hier, dem wir nachjagen, wert? ‘Was bedeutet es, irgendjemand zu sein? Was macht es aus, ein Niemand zu sein? Der Mensch ist nicht mehr als der Traum eines Schattens’ – All zu wahr, was einst der Dichter sang.“
Langius wendete sich mir zu und sprach: „Nun, junger Mann, betrachte nicht nur diese Lächerlichkeiten, sondern verachte sie. Schöpfe aus der ganzen wackligen und sprunghaften Nichtigkeit aller weltlichen Dinge die Geistesstärke, die deine Haltung prägen soll. Unbeständig nenne diese Vorkommnisse nur, sofern sie unseren Verstand und unsere Wahrnehmung betreffen. Was Gott und seine Vorsehung angeht, so entwickelt sich alles aus einer unabänderlichen und fest gefügten Ordnung heraus.
Nun lasse ich die leichten Waffen beiseite und fahre schweres Geschütz auf: Nicht mit Pfeilen werde ich deinen Schmerz
Fatum bekämpfen, sondern mit Katapulten. Ich werde den festen und starken Sturmbock des Schicksals hineinrammen. Den wird keine menschliche Kraft herausschlagen, keine Spitzfindigkeit wird ihn hinters Licht führen.
Dieses Thema ist gefährlich, man kann leicht dabei ausgleiten. Dennoch werde ich es anpacken, aber vorsichtig, langsam und, wie die Griechen sagen, gemessenen Schrittes.
Zunächst mal, Lipsius, denke ich, hast weder du, noch hat je ein Volk oder Zeitalter angezweifelt, dass es ein Schicksal gibt, das in den Dingen wirkt.“
Hier fuhr ich dazwischen und sprach: „Verzeih, wenn ich mit dir in dieser Sache nicht einer Meinung bin. Du willst mir das Schicksal entgegenstellen. Der Rammbock taugt nichts. Der wird gelenkt von den unsicheren Fäden der Stoiker. Ich sag’ es dir frei heraus: Ich gebe nichts auf das Schicksal und die Parzen,[28] und mit dem Soldat bei Plautus möchte ich diesen altersschwachen Haufen auseinander blasen wie der Wind die Blätter.“
Darauf antwortete Langius mit strenger und geradezu drohender Miene: „Du unbesonnener und leichtsinniger Mensch, du willst das Schicksal oder Fatum leichtfertig aufs Spiel setzen oder ganz beseitigen? Das vermagst du nicht, es sei denn, du nimmst mit ihm zusammen die ganze göttliche Macht und Hoheit hinweg.
Fatum als logi- Denn wenn es einen Gott gibt, dann gibt es eine Vorsehung.
scher Schluss Wenn es weiter diese gibt, dann auch eine festgesetzte Ordnung der Dinge – folglich auch eine sichere und unverrückbare Notwendigkeit in der Abfolge der Ereignisse.
Na, wie willst du diesem Streich ausweichen? Oder mit welcher Axt willst du die Kette dieser Schlussfolgerung zerschlagen? Gott und den ewigen Geist dürfen wir uns nur so vorstellen, dass
C 1.17.48 in ihm ein ewiges Wissen, eine von je her bestehende Vorkenntnis der Dinge besteht. Denselben denken wir als fest, sicher, unverrückbar – er ist immer ein und derselbe und somit eine unwandelbare Identität. Was er einmal gewollt oder als Zukünftiges gesehen hat, ändert er um keinen Preis, nichts kann ihn wankend machen. ‘Denn gar nicht schnell ändert sich der Sinn der ewig währenden Götter.’[29]
Wenn du das eingestehst (und das ist zwangsläufig, es sei denn du hast jeden Sinn und Verstand verloren), dann musst du auch zugeben, dass alle göttlichen Beschlüsse fest und unabänderbar sind – von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und aus ihnen geht die Notwendigkeit hervor, und das, was du verspottest, das Fatum.
Die Wahrheit dieser Sache liegt derart deutlich auf der Hand, dass unter den Völkern keine ältere und allgemeingültigere Auffassung herrscht. Fast allen, denen das Licht Gottes und der Vorsehung entgegenstrahlte, denen erschien auch das Schicksal als eine einleuchtende Wirklichkeit. Diese ersten reinen Fünkchen, die dem Menschen Gott offenbarten, scheinen ebenso den Weg ausgeleuchtet zu haben, der zum Fatum führt.
Fatum in der Nimm nur Homer, und hör ihm zu, dem weisesten und Fürsten
Dichtung der Poeten. Ich müsste lügen, wollte ich behaupten, dass diese göttliche Muse eine andere Bahn öfter eingeschlagen und mehr geprägt hätte als die des Schicksals. Auch der übrige Stamm der Dichter weicht da nicht von seinem Urvater ab: sieh Euripides, Sophokles, Pindar und von den Unsrigen Vergil.[30]
Historiker und Rufst du mich zu den Geschichtsforschern? So sind sich alle
Philosophen darin einig, dass alles Mögliche aufgrund von schicksalhaften Wendungen geschieht: auch der Bestand oder Untergang von Königreichen. Oder willst du die Philosophen hören? Denen liegt noch mehr am Herzen, die Wahrheit zu erforschen und gegen Plattheiten der Vulgärmeinung zu verteidigen. Obwohl jene aus Eifer und falschem Ehrgeiz in den meisten anderen Fragen unterschiedliche Ansichten vertreten, ist es doch bewundernswert, wie einig sich alle am Beginn dieses Weges sind, der zum Fatum führt.
4 Begriffe von Ich sagte am Beginn. Denn es lässt sich nicht leugnen, dass dieser
Schicksal Weg bald in zahlreiche Seitenpfade mündet. Diese allerdings, denke ich, lassen sich alle auf ein Geviert reduzieren: 1. den Schicksalsbegriff der Astrologen (Fatum Mathematicum), 2. den natürlichen Schicksalsbegriff der Peripatetiker (Fatum Naturale), 3. die rigorose Auffassung der Stoiker (Fatum Violentum) und schließlich das tatsächliche und wahrhaftige Schicksal (Fatum Verum).
Die verschiedenen Positionen werde ich kurz darlegen und dennoch auch bei Einzelheiten verweilen, da diesbezüglich weit verbreitete Verwirrung und Irrtümer bestehen.
[1] Zur Providentia als Vorsehung und göttlicher Fürsorge s. Weisheit S. 82ff.
[2] Mit diesem Argument leitet Lipsius hier im Kapitel 12 des 1. Buches die Betrachtung der Providentia oder Vorsehung ein (C 1.13-14), die er gegen Ende des Kapitels dann definiert.
[3] Ab C 1.15.
[4] Ab C 2.6.
[5] Ab C 2.18.
[6] Vir. 38v. übersetzt „ne diis quidem … esse in manu“ mit „keinem Menschen möglich“; er möchte wohl dem Vorwurf einer heidnischen Terminologie aus dem Wege gehen.
[7] „Mens aeterna“, s. dazu Weisheit S. 82 und besonders Anm. 2.
[8] Lipsius übersetzt das griechische „“ mit „praecentor“; ev. nach Cicero,
de fin. 2.94 „praecentare“ (vortragen).
[9] Lipsius setzt dieses längere Zitat (Pseudo-Aristoteles, de mundo 400b7-12) zunächst im griechischen Original, um ihm dann eine für seine damalige Leserschaft leichter verständliche lateinische Übersetzung folgen zu lassen. S. hierzu Weisheit S. 84f. und besonders Anm. 10.
[10] Zur „Prima Causa“ s. Weisheit S. 85, Anm. 11.
[11] Zur philosophiehistorischen Quellenlage s. Weisheit S. 87, Anm. 18.
[12] Sen. de vita beata 15.7; vgl. Weisheit S. 87, Anm. 19.
[13] „Rigida enim et infracta ista vis …“; „infractus“ muss hier als „unzerbrechlich“ und demnach unterstützend zu „rigidus“ aufgefaßt werden. Die bekannten Bedeutungen wie „entmutigt“, „abgehackt“ (in der Rede) sind hier widersinnig. Für das Gestammele oder kleinmütige Reden setzt Lipsius in C 1.12.38 entsprechend „verba fracta“.
[14] Zur Problematik der Notwendigkeit in der philosophischen Dimension von Necessitas oder griechisch „“ s. Weisheit S. 122ff.; zu Thales s. ebda, S. 122, Anm. 3.
[15] Stobaeus, Eclog. Phys. 1.5.7; s. Weisheit S. 123, Anm. 7.
[16] Das Fatum behandelt Lipsius ausführlich ab Kapitel 17.
[17] Platon, Pol. 608e f.
[18] S. Weisheit S. 124 u. Anm. 12.
[19] Lipsius wählt das griechische Original für den Text. Doch schon die lateinische Glosse christianisiert – hin zum monotheistischen Weltbild: „uni deo numquam senectus …“
[20] S. Pausanias 7.24.4-725.4. Poseidon bestraft den Frevel der Achaier mit Erdbeben und Flutwelle.
[21] Hier ist die Glosse „In Zelandiae partibus“ mit in den Text eingearbeitet.
[22] Lipsius nennt hierzu u.a. noch die C(h)auci (Ostfriesen).
[23] Viritius (Vir. 47v.) schmückt seine Übertragung an dieser Stelle aus und erklärt die Verwüstung griechischer Städte seiner Zeit mit dem Türkensturm: „und wir sehen, dass Athen, Sparta und so viel andere edele fürtreffliche Städte mehr durch des grausamen Türcken Tyranney so jemmerlich verwüstet und verderbet worden.“
[24] Eine Glosse (n.1) verweist auf Rom und die Türkei.
[25] Die Einwohner von Sybaris, einer griechischen Kolonie in Lukanien, waren bekannt und sprichwörtlich wegen ihres Reichtums und der Pflege eine feinen Küche (bereits im 6. Jh. v. Chr.).
[26] Die Randnotiz (n.4) leitet die Türken von dem Volk der Skythen ab.
[27] Zur umfassenden Darstellung des Fatumbegriffes s. Weisheit S. 88ff.
[28] Die Parzen oder Moiren (nach Hesiod: Klotho, Lachesis, Atropos), Schicksalsgöttinnen, die den Menschen ihr individuelles Schicksal zuteilen.
[29] Der lateinischen Übertragung in der Glosse (n. 1) ist der Zusatz angefügt: „Ein Vers Homers.“
[30] Durch den Mund des Langius reiht sich Lipsius hier nahtlos in die Reihe lateinischer Autoren ein.
Mit WordToHTML.net in HTML umgewandelt | E-Mail-Signatur-Generator