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C 2.10.78 Kapitel 10

 

Schließlich: Strafe (Punitio) als Gut und Heil.

Hinsichtlich Gottes, der Menschen und dessen, der gestraft wird.

 

 

J

                                       a doch, die Strafe bezieht sich auf die Bösen – und dennoch

                                       ist sie nicht böse! Denn erstens ist sie gut, sofern du Gottes

Mit Blick auf Gott Rolle berücksichtigst: Sein ewiges und unabänderliches Gesetz der Gerechtigkeit verlangt, dass die Verfehlungen der Menschen entweder gebessert oder aber getilgt werden. Was aber rein gewaschen werden kann, das bessert die Züchtigung; was nicht, das nimmt die Strafe hinweg.

Menschen Des Weiteren ist sie gut, wenn man die Menschen allgemein betrachtet: Ihre politische Gemeinschaft wäre weder von Bestand noch Dauer, wenn den Gewalttätern und Verbrechern alles ungestraft abginge.

 Zuweilen ist es nötig, zur Aufrecherhaltung der Sicherheit im privaten Bereich einen einzelnen Dieb oder Mörder hinzurichten. Ebenso muss dann in der großen Politik eine Berühmtheit dran glauben. Solche Bestrafungen von Tyrannen und Raubbuben auf der ganzen Erde sind mitunter von Nöten, damit warnende Beispiele verkünden, dass es ‚ein Auge der Gerechtigkeit gibt, das alles sieht.’ Damit an andere Herrscher und Völker der Ruf ergeht: ‚Lernt die Gerechtigkeit, die ihr gemahnt werdet, auf dass ihr die Götter nicht verachtet.’[1]

Die Bestraften Drittens ist die Strafe gut, wenn man selbst auf die schaut, die gestraft werden. Denn sie ist ihrem Wesen nach keine Rache oder Vergeltung. Die gütige Gottheit ‚verlangt niemals aus Zorn nach harten Strafen’, wie der heidnische Dichter so fromm sagt, sondern Strafe ist nichts anderes als ein Schutz, ein Abhalten von weiterer Untat. Um es treffender mit den Griechen zu sagen: Sie ist ‚Kolasis’, aber nicht,’Timoria’.[2]

 Oft kommt der Tod ganz sanft zu den Guten, bevor sie ein Verbrechen verüben können, die Bösen ereilt er bei ihrer Übeltat – bei ihnen ist jede Hoffnung vergebens. Sie lieben das Verbrechen so sehr, dass sie nur mit einem kräftigen Hieb davon abgehalten werden können. Also stoppt Gott ihren zügellosen Lauf und nimmt in seiner Güte gleichermaßen die Sünder und die zur Sünde Bereiten hinweg.

 Schließlich ist Strafe überhaupt gut unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit. Entsprechend ist Straflosigkeit böse, da sie bewirkt, dass die Täter länger als Verbrecher und damit als Elende leben.

 Mit Scharfsinn formuliert Boethius: ‚Die Verbrecher sind glücklicher, wenn sie hart bestraft werden, als wenn keine Strafe der Gerechtigkeit sie in die Schranken weist.’[3]

Und er fügt als Begründung an, weil ihnen ein Gut zuteil geworden ist (natürlich die Strafe), das ihnen auf der Müllhalde ihrer Verbrechen fehlte.

 


C 2.11.79 Kapitel 11

 

Ein viertes Ziel der Übel, das dem Menschen unklar ist: 

der Erhalt und Schutz des Universums[4] oder seine Pflege. 

Eine detaillierte und ausführliche Darstellung.

 

 D

                                       ie drei genannten Ziele, Lipsius, sind erwiesen und eindeu-

                                       tig. Hierdurch bin ich festen Fußes gewandert. Ein viertes

 ist aber noch übrig, bei dem ich schwanke. Denn es ist zu unbekannt und entlegen, als dass der menschliche Geist es sicher erkunden könnte. Genau genommen sehe ich es durch einen Nebel. Es steht mir an, Vermutungen über Sinn und Zweck desselben anzustellen, nicht es wissend zu erkennen. Ich kann darum herum gehen, nicht direkt darauf zu.

 Das Ziel, das ich meine, ist allgemeiner Natur und berührt den Erhalt und die Pflege des Universums.

Erhalt (Conservatio Vom Erhalt denke ich wie folgt: Gott, der in seiner Weisheit

universi)  alles geschaffen und geordnet hat, hat es derart erschaffen, dass er ein jedes ‚nach Zahl, Wachstum und Gewicht’[5] festgelegt hat. Dieses Maß darf nichts und niemand überschreiten, ohne dass alles in Gefahr gerät oder gar seinem Ruin entgegengeht. So haben die großen Körper – Himmel, Meer und Erde – ihre Grenzen. Ebenso ist einem jeden Lebewesen in seiner Zeit eine bestimmte Anzahl festgeschrieben; entsprechend ergeht es Menschen, Städten und Königreichen. Wollen sie nun diese Grenze überschreiten, muss sie notwendig ein Sturm von Katastrophen aufreiben. Denn sonst würde dieses wunderschöne Werk des Universums Schaden nehmen. Sie wollen aber sehr oft, besonders da, wo ihnen ein Gesetz von Werden und Wachsen gegeben ist.

 Schau dir nur die Menschen an. Wer wollte leugnen, dass es uns von Natur aus eigen ist, zahlreicher geboren zu werden als zu sterben? So dass zwei Menschen aus ihrer Verbindung in wenigen Jahren an die hundert Nachkommen zeugen können, von denen gerade mal zehn oder zwanzig sterben.

 Nimm eine Viehherde: Sie würde ins Unermessliche wachsen, wenn nicht die Viehzüchter jährlich einige Exemplare absonderten und der Fleischverarbeitung zuführten. Nimm die Vögel und Fische: Binnen kurzer Zeit würden sie Luft und Wasser füllen, wenn nicht Streit und gleichsam Krieg unter ihnen herrschte – und ebenfalls die Menschen ihnen nicht nachstellten.

 Nimm nur kleine und große Städte: Eine jede Zeit baut und konstruiert die ihren. Unser Erdkreis und noch ein zweiter könnten sie kaum fassen, wenn nicht Feuer und Zerstörung ihre dauernde Ausdehnung hinderten.

 Und so kannst du in Gedanken ähnlich die Natur anderer Dinge durchwandern.

 Was soll es also verwundern, wenn Vater Saturnius zuweilen seine Sichel in diesen üppig wuchernden Garten hält und einige überflüssige Tausende mit Seuche oder Krieg hinweg haut? Täte

C 2.11.80 er es nicht, welches Gebiet sollte uns noch fassen, welche Erde uns nähren? Folglich geht ein Teil mit Recht zugrunde, damit das Ganze[6] in Ewigkeit Bestand hat. Wie nämlich für die Staatslenker das Wohl des Volkes das höchste Gesetz darstellt, so ist es für Gott das Heil der Welt.

Pflege (Cultus Aber über die Pflege oder den Kultus denke ich in zweifacher

universi)  Hinsicht.

1. Argument Erstens bin ich der Auffassung, dass in dieser riesigen Maschinerie des Weltganzen nichts von Schönheit Bestand hätte ohne Veränderung und schillernde Gegensätze.

 Ich bekenne gerne die glänzende Pracht der Sonne. Doch angenehmer wird ihr Erleben dennoch nach einer Tau bringenden Nacht und dem ausgebreiteten Mantel der schwarzen Mutter.

 Der Sommer ist die angenehmste Jahreszeit. Aber wie angenehm macht ihn erst der Winter mit seinem Marmor aus Eis, dem Grau und Weiß des Schnees! Wenn du das alles wegnimmst, raubst du das Empfinden und die tiefe Freude am Licht wie an der Hitze. Und wenn ich hier unsere Erde betrachte, so erfreut sie mich doch nicht nur durch ein einziges Aussehen: Vielmehr begeistere ich mich an Ebenen und Hügeln, an Tälern und Felsen, an Feldern und Sandwüsten, Wiesen und Wäldern. Überdruss und Ekel sind die beständigen Begleiter des ewig Gleichen.

 Und warum sollte mir auf – wenn ich so sagen darf – der Bühne unseres Lebens eigentlich immer dasselbe Stück in derselben Ausstattung Vergnügen bereiten? Das macht mir überhaupt keinen Spaß! Wenn es nach mir ginge, könnte es bisweilen Stille und Ruhe geben, die dann wieder von Kriegswirren oder den Tiraden eines wütenden Tyrannen unterbrochen würden.

 Wer wünscht sich dieses Universum schon wie ein totes Meer, ohne Wind, ohne Bewegung?

2. Argument Aber ich wittere auch noch einen anderen Kultus, einen bedeutenderen und von einem inneren Nutzen begleitet. Hier dienen mir die Geschichtsbücher als Beispiele, die zeigen, dass fast immer bessere und mildere Zeiten den Ozeanen der Katastrophen folgen.

 Kriege mögen ein Volk quälen, aber sie treiben es auch voran, schärfen seinen Geist und fördern Wissenschaft und Kultur.[7] Die Römer haben einst dem Erdkreis ein hartes Joch auferlegt; aber ein Joch, das doch einen heilsamen Nutzen hatte. Es vertrieb die Barbarei aus den Herzen, wie die Sonne die Finsternis von den Augen nimmt. Was wären wir Gallier oder die Germanen[8] denn heute, hätte uns nicht das Licht des großen Imperium Romanum entgegengestrahlt?! Wilde, Schrecken erregende Gesellen würden mit Freude Freund und Feind morden, weder Gott noch die Menschen achten.

 Und ebenso wird es der Neuen Welt ergehen, vermute ich, die die Spanier mit heilsamer Wut entvölkert und ausgeplündert haben und bald wieder anfüllen und bebauen werden. Diejenigen, die große Plantagen besitzen, versetzen Bäume, andere veredeln sie, wieder andere reißen sie aus. Und erfahren verrichten sie all das zum Wohl und Nutzen ihrer Pflanzung. Und so verfährt Gott auf dem riesigen Acker unserer Welt. Denn er ist der kundigste

C 2.11.81 aller Gartenbauer: Da reißt er schon mal einige lästige Zweiglein Familien ab, dort rupft er ein paar Blätter Menschen. Doch immer zum Segen des Stammes. Doch jene fallen und diese fliegen als Spielball des Windes. Derselbe Gartenmeister erkennt ein Volk als eine verdorrte Pflanze und schon schwach an Tugend, also schmeißt er’s fort. Ein anderes ist derb und unfruchtbar, also versetzt er es in eine andere Gegend. Verschiedene Völker mischt er miteinander und veredelt sie wie durch Pfropfen.

 Ihr Italier, eure Macht ist im Schwinden begriffen, weichlich seid ihr und kraftlos. Weshalb haltet ihr das Beste der Länder in eurem Besitz? Macht euch davon! Die harten und starken Langobarden sollen diese Scholle glücklicher bestellen. Ihr verruchten und schwächlichen Griechen geht zum Teufel! Sollen doch die grausamen Skythen auf diesem Boden etwas zuwege bringen und dabei milder gesinnt werden. Nun, in einem solchen Völkerwirrwarr, nehmt ihr Franken Frankreich, ihr Sachsen Britannien, ihr Normannen Belgien und seine Nachbarn unter eure Herrschaft.

 Aber all das, mein Lipsius, und mehr kannst du als fleißiger Leser problemlos der Historie und dem Gang der Dinge entnehmen. Also, Kopf hoch, mein Freund! Das wollen wir uns vor Augen halten: Wo auch immer ein persönlicher Schaden uns widerfährt, dient er einem anderen Teil dieses Universums zum Nutzen. Der Untergang dieses Volkes oder Königreiches wird der Aufstieg eines anderen sein. Der Fall jener Stadt da wird der Aufbau einer neuen. Und so geht eigentlich nichts wirklich zugrunde, sondern es macht lediglich eine Verwandlung durch.

 Oder sind wir Belgier etwa einzig bei Gott herausgehoben und auserwählt? Sind wir einzig in alle Ewigkeit vom Glück verfolgt und verschont von Fortunas Trauergewand? Das ist doch wohl albern! Unser großer Vater hat nun mal mehrere Kinder. Also gestatte, dass er sie nicht alle zugleich nehmen will oder kann; so erweist er ihnen von Zeit zu Zeit Wohltaten und nimmt sie an seine Brust.

 Wir haben unsere Sonnentage gelebt; lass nun ein wenig Nacht hier sein und das strahlende Licht nach Westen schwinden.

 Seneca hat entsprechend seiner Art sehr trefflich hierzu Stellung bezogen: Der Weise ‚stört sich an nichts, was ihm widerfährt, da er weiß, dass selbst das, was ihn scheinbar verletzt, zum Erhalt des Weltganzen beiträgt und dass daraus der kosmische Vollzug zur höchsten Vollendung findet.’[9]

 

 


C 2.12.81 Kapitel 12

 

Ein alter und populärer Vorwurf an die göttliche Gerechtigkeit:

die Ungleichheit der Strafen – 

eine dem Menschen unangemessene und unschickliche Frage.[10]

 

 

 A

                                       ls Langius an dieser Stelle einmal seine Rede unterbrach,

                                       hob ich an: „Was dem Wanderer in der Hitze des Tages ein

C 2.12.82 kühler Quell, ist mir dein Wort. Es richtet mich wieder auf und erfrischt. Es lindert mit kühlem Nass mein Fieber und meine feurige Erregung. Aber es ist halt nur eine Linderung, noch keine Heilung. In meinen Gedanken schwirrt noch eine Grille, die schon die Alten umgetrieben hat: die Unverhältnismäßigkeit der Strafen. Denn wie kommt es nur, Langius, wenn doch die Waage der göttlichen Gerechtigkeit stets ausgeglichen, dass das Geschoss dieses Unheils ‚die Verbrecher meist verfehlt, die Unschuldigen aber hinwegrafft statt der Übeltäter?’[11]

Warum, so frage ich, werden oft unschuldige Völker zugrunde gerichtet? Warum verfolgt die Schuld, die die Vorfahren auf sich geladen haben, häufig noch deren Nachkommen auf Generationen hin? Dieser Rauch brennt mir heftig in den Augen, mein Freund; wollest ihn, so du kannst, mit einem Strahl deiner Vernunft vertreiben.“

Langius zog die Stirn plötzlich kraus: „Junger Freund, willst du mir schon wieder aus dem Ruder gehen? Nein, nein! So nicht! Erfahrene Jäger dulden auch nicht, dass ihr Hund von seiner Spur abirrt, sondern bestehen auf der einen eines bestimmten Wildes. So will ich es auch halten: Ich möchte, dass du bei der Richtung bleibst, die ich dir vorgegeben habe. Ich habe dir Sinn und Zweck des Unheils dargelegt: Bist du rechtschaffen, so gehe davon aus, dass du geübt wirst, bist du gefallen, so wirst du aufgerichtet, bist du aber böse, wirst du bestraft. So, und du willst mich zu den Ursachen von all dem hinreißen. Eitler Geist! Was beabsichtigst du eigentlich mit deiner Neugier? Willst du die himmlischen Feuer berühren? Du wirst zerschmelzen! Oder willst du die Höhen der Vorsehung erklimmen? Dann wirst du hinabstürzen! Falter und Insekten umschwirren des Abends das Licht der Kerze, solange, bis sie verbrennen; und ebenso ergeht es dem menschlichen Geist, der um jene geheimnisvolle Flamme tänzelt.

Du sagst: Lass hören, her mit den Gründen, warum die Rache Gottes diese verschont und jene ereilt! Gründe? Du machst mir Spaß! Das einzige, was ich dir mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich sie nicht kenne. Ich habe kein einziges Mal in der göttlichen Senatsversammlung gesessen, noch ist es mir gelungen, ihre Beschlüsse zu erfassen. Das jedenfalls weiß ich: Die Ursache, die

Gott als Erstursache allen anderen Ursachen vorausgeht, ist der Wille Gottes.[12] Wer darüber hinaus nach Gründen forscht, verkennt die Gewalt und Macht der göttlichen Natur völlig. Denn für jede Ursache gilt mit Notwendigkeit, dass sie früher und bedeutender ist als das, was sie bewirkt. Es ist aber nichts früher und größer als Gott und sein Wille. Folglich kann für ihn auch keine Ursache angegeben werden. Nun hat Gott also hier Schonung walten lassen, dort hat er zugeschlagen. Was willst du noch mehr? Salvianus hat zu Recht und in frommer Weise formuliert: ‚Die höchste Gerechtigkeit ist Gottes Wille.’[13] Dennoch fordern wir irgendeine vernünftige Erklärung dieser Ungleichheit, maulen manche. Von wem? Von Gott etwa? Dem allein ist erlaubt, was auch beliebt. Und nichts beliebt ihm, wenn’s nicht auch erlaubt. Wollte ein Sklave oder Diener vom Herrn des Hauses, ein Untertan von seinem Fürsten Rechenschaft fordern, so würde jener dies als Anmaßung werten, letzterer als Rebellion auffassen. Und du willst dich noch gegen

C 2.12.83 Gott wenden? Fort mit dir, du törichte Wissbegier! ‚Der Sinn des göttlichen Plans besteht darin, dass er niemandem offenbar wird.’[14]

 Und solltest du alles unternommen haben, du wirst dich aus dem Dunkel deiner Unkenntnis nicht heraus stehlen und nie zu jenen klugen und wahrhaft verschwiegenen Ratsversammlungen zugelassen werden.

 Vortrefflich sagt es Sophokles: ‚Aber nicht ist dir gegeben, Göttliches zu erkennen. Auch wenn alles forschend du durchstreifst, 

die Götter halten sich bedeckt.’

 


C 2.13.83  Kapitel 13

 

Damit dennoch der forschenden Neugier Genüge getan wird:

eine Stellungnahme zu drei alten Vorwürfen.

Zunächst, dass die Bösen ungestraft blieben. 

Wir legen dar – aufgeschoben ist nicht aufgehoben. 

Und das entweder der Menschen selbst wegen 

oder aus dem Wesen Gottes, der zur Strafe langsam schreitet.

 

 D

                                       as, Lipsius, ist ein klarer und einfacher Weg, der einzig

                                       wirklich sichere; die übrigen sind trügerisch und schlüpfrig.

 Man gleitet leicht auf ihnen aus. Der Witz bei göttlichen und übernatürlichen Angelegenheit ist, dass man nichts erkennt, die einzige Wissenschaft, dass man nichts weiß. Da jedoch einst wie jetzt die klugen Köpfe ein Wölkchen eingehüllt hat, will ich dich kurzer Hand, so ich’s vermag, aus ihm befreien und auch noch über diesen Fluss führen, in dem du feststeckst.

 Du himmlischer und ewiger Geist (dabei erhob er die Augen) gib mir Frieden und sei mir gnädig, falls ich über deine Geheimnisse wider besseres Wissen irgendetwas Unrechtes oder Unreines sagen sollte.

 Nun zum ersten, Lipsius. Im Allgemeinen scheint’s, kann ich Gott seine Gerechtigkeit zuerkennen, und das mit einem Schlag: Wenn Gott die menschlichen Dinge anschaut, sorgt er sich auch darum. Sorgt er sich, so lenkt er sie auch. Lenkt er sie, so tut er dies mit gerechtem Urteil. Wenn dies aber der Fall ist, wie sollte noch Ungerechtigkeit Platz greifen können? Denn ohne ihn wäre keine Ordnung möglich; es gäbe nur Chaos, Verwirrung und Aufruhr.

 Nun, was willst du diesem Geschoss entgegen schleudern? Was für einen Schild hast du, was für eine Waffe? Wenn du ehrlich bist – nur die menschliche Dummheit!

 Du sagst, ich verstehe nicht, warum diese bestraft werden, jene aber nicht. – Hat sich’s drum!

 Du willst deiner Unvernunft also auch noch die Unverfrorenheit hinzugesellen. Nur weil du die Stärke jenes göttlichen und reinen Rechts nicht begreifst, möchtest du herumkritteln. Welche Logik kann ungerechter gegen die Gerechtigkeit auftreten?!

 Wenn irgendein dahergelaufener Fremder die Gesetze und Einrichtungen deines Vaterlandes kritisieren wollte, hießest du ihn schweigen und sich davon scheren, da er sie nicht versteht. Und du Erdbewohner willst die Gesetze des Himmels, von denen du überhaupt keine Ahnung hast, verurteilen? Du Geschöpf den Schöpfer schelten? Und dennoch: Tu’s; es sei dir gegönnt. Denn

C 2.13.84 ich werde dich noch etwas näher dorthin drängen und die Schleier deines Frevels genau prüfen, wie du es verlangst, bei der Sonne der Vernunft.

Drei Vorwürfe Dreierlei machst du zum Vorwurf: Gott strafe nicht die Bösen; er strafe dagegen die Unschuldigen; er verändere die tatsächlichen Verhältnisse und setze andere in die Verantwortung der wahren Schuldigen.

Straflose Übeltäter Doch über das erste zunächst. Du behauptest, die göttliche Rache gehe in übler Weise an den Übeltätern vorbei. So? Sie geht vorbei? Das Gegenteil, denke ich, ist der Fall. Sie ist lediglich aufgeschoben. Wenn ich ein großes Schuldenvermögen ausstehen habe, so mag ich es doch von jenem Schuldner sogleich einfordern, diesem aber eine Frist setzen. Was schert’s dich? Das ist doch wohl allein Sache meiner Entscheidung und Einwilligung. Und ebenso verfährt der große Gott: Obwohl ihm alle Verbrecher ihre Strafe schulden, fordert er sie von diesem sofort, bei anderen gewährt er Aufschub, aber mit einer kräftigen Zinszahlung. Was ist daran ungerecht?

 Es sei denn, du machst dir um Gott Sorgen und fürchtest, er werde Schaden nehmen ob dieses gütigen Aufschubs. Aber, mein Mensch, du kannst versichert sein: Niemals wird irgendwer seine Schulden zum Nachteil dieses Gläubigers durchbringen. In seinen Augen sind wir alle, wohin wir auch immer fliehen, schon gefesselt und geknebelt.

 Du aber sagst, ich möchte, dass jener Tyrann da jetzt bestraft wird und durch seinen sofortigen Tod so vielen Unterdrückten Genugtuung widerfährt. Denn so leuchtet uns Gottes Gerechtigkeit umso heller. Die Gerechtigkeit würde klarer erkennbar? Ich denke eher deine Borniertheit! Wer bist du denn, dass du Gott nicht nur bei der Bestrafung vorangehst, sondern auch noch den Zeitpunkt vorschreiben willst? Was glaubst du denn? Dass er dein Richter ist oder dein Henker und Diener?

 Geh weg, schlag zu, du sollst sein Haupt verhüllen, ihn an irgendeinen unseligen Baum hängen. Denn so erscheint es mir angemessen. – Was für eine Unverschämtheit! – Aber Gott sieht es eben anders. Denn du musst wissen, er sieht hierin immer ein wenig schärfer und straft zu einem anderen Zweck. Dich treibt die Hitze der Affekte, bewegt die Gier nach Rache. Davon ist er ganz weit entfernt. Er achtet auf das lehrende Beispiel, die Besserung der anderen Menschen, Gott weiß aber selbst am besten, wem etwas Nütze ist, und wann. Große Bedeutung kommt der rechten Zeit zu; die heilsamste Medizin hat oft schon zum Verderben geführt, wenn sie nicht rechtzeitig verabreicht wurde.

 Caligula wurde beim ersten Lauf seiner Tyrannei aus der Bahn genommen. Nero durfte ein wenig länger wüten, am längsten Tiberius. Aber sei sicher, dass es auch zum Guten derer war, die damals klagten. Unsere üblen und ungehobelten Gewohnheiten bedürfen oft einer langsamen Peitsche; aber wir wollen, dass sie sogleich weggenommen und ins Feuer geworfen wird.


Logik der Dies ist ein Sinn dieser Langsamkeit, sofern er uns angeht. Ein

Langsamkeit anderer betrifft Gott selbst: Ihm scheint es eigen zu sein, langsamen Schrittes zu seiner Rache zu schreiten, die Verzögerung

C 2.19.85 gleicht er aber durch die Schwere der Strafe aus. Synesius sagt es trefflich: ‚Die Gottheit geht langsam vor und mit System.’[15] Nicht schlecht sprechen in diesem Sinne die Alten von den Göttern, dass sie Füße weich wie Wolle hätten. Wie hitzig du auch immer auf eilige Rache sinnst, du scheinst diesem Aufschub nicht zürnen zu müssen.

 Eine Strafe, die verzögert wird, erfährt auch eine Anhebung ihrer Schärfe.

 Sag mir, wenn du ein Theaterstück anschaust, regst du dich dann etwa auch darüber auf, wenn so ein Atreus oder Thyestes[16] im ersten oder zweiten Akt schwebend und hoch erhobenen Hauptes daher schritt, herrschte, drohte und befähle? Ich denke, nicht. Denn du wüsstest, dass sein Glück nur von kurzer Dauer wäre; du würdest erwarten, sie grässlich im letzten Akt zusammenbrechen zu sehen.

 Warum bist du dann bei der Geschichte dieser Welt gegen Gott unnachsichtiger als gegenüber irgendeinem Dichter? Jener Verbrecher mag triumphieren, der Tyrann da mag leben. Sei’s drum. Aber bedenke, dass dies der erste Akt nur ist, und halte dir immer vor Augen, ihre Freude erwartet Heulen und Zähneknirschen. Diese Bühne wird alsbald vor Blut überfließen, und die purpurnen und güldenen Kleider werden sich darin wälzen.

 Denn wir haben da einen guten Dichter, und der wird nicht blindlings die Gesetze seiner eigenen Tragödien übertreten.

 Erträgst du denn nicht auch in der Musik zuweilen dissonante Klänge, weil du letztendlich im Zusammenklang die Harmonie erkennst? Mach’s hier genauso!

 Aber diese Bestrafung sehen nur selten die eigentlichen Opfer der Täter. Was wundert’s dich? Das Stück ist nämlich etwas lang, und die Zuschauer können eben solange nicht in diesem Theater ausharren. Dennoch sehen es andere, und die ergreift mit Recht die Furcht. Denn sie erkennen, dass für einige der Urteilsspruch in diesem strengen Gericht vertagt wird, aber kein Freispruch ist. Der Tag der Strafe ist aufgeschoben, nicht aufgehoben.

 Deshalb halte dies fest, Lipsius, bisweilen erfahren die Verbrecher Bewährung, doch keine Entlassung. Niemand führt eine Untat im Herzen, der nicht die Nemesis[17] schon im Rücken hat.

 Ich möchte es mit Euripides sagen, ‚Diese Göttin folget, mit Schweigen heimlich stille und schleichenden Fußes wird sie die Bösen fassen, wenn günstig es erscheint.’

 


C 2.14.85  Kapitel 14

 

Es gibt mehrere Strafen; bestimmte sind verborgen und innerlich. 

Sie folgen dem Verbrechen selbst.

Kein Übeltäter kann ihnen entfliehen.

Und sie wirken schwerer als alle äußeren.

 

 D  

                                  amit du dies dennoch etwas besser verstehst und ich dich

                                  gleich zum Kern des Problems führen kann. magst du

C 2.14.86 folgendes bedenken: Die göttlichen Strafen sind von dreifacher

3 Arten von Strafen Art – es gibt innere, nachfolgende und äußere.

1. Erstere nenne ich die, die den Geist betreffen, aber sofern er noch im Körper ist – als da sind: Ängste, Reue, Furcht und die tausendfachen Gewissensbisse.

2. Zu den zweiten zähle ich die, die denselben Geist quälen, aber dann ist er schon frei und vom Körper getrennt. Solche Strafen verfolgen den Übeltäter auch noch nach seinem Tod, wie schon die Alten richtig annahmen.

3.  Die dritten aber sind die, die den Körper direkt treffen oder das, was um ihn herum ist. Wie Armut, Verbannung, Schmerz, Krankheit oder Tod.

 Oft jedenfalls trifft es sich, dass alle diese aus einem gerechten Urteil Gottes die Bösen ereilen, mit Sicherheit aber die ersten beiden.

Innere Strafen Zu den inneren Strafen möchte ich das Folgende sagen: Wer ist schon derart abgebrüht und verkommen, dass er niemals die scharfe Peitsche oder den Stich des Gewissens gespürt, sei es bei der Ausübung der Tat selbst oder erst recht danach?

 Wahr sprach einst Plato, als er ‚die Strafe eine ständige Weggefährtin der Ungerechtigkeit’[18] nannte. Oder vielleicht noch trefflicher Hesiod: ‚eine Gespielin’.[19]

 Blutsverwandt, besser noch eingeboren ist jedem Verbrechen die Bestrafung der Übeltat; und nichts ist in diesem Leben sicher und sorgenfrei – außer der Unschuld! Nach römischem Brauch trugen die zu Kreuzigenden das Kreuz selbst, das doch bald sie tragen sollte. Ebenso hat Gott allen Verbrechern das Kreuz des Gewissens auferlegt, durch das sie schon vor dem Leid leiden.

 Denkst du etwa, nur das sei Strafe, das augenfällig wird? Was der Körper erduldet? Mitnichten! Die äußeren Strafen sind allesamt leichter und berühren uns nicht auf Dauer; die inneren sind’s, die drängen.

 Es werden doch auch die für kränker gehalten, die an der Pest oder Schwindsucht leiden, als die mit Hitze oder Fieber. So unterliegen auch die Ruchlosen einer schwereren Strafe, die langsamen Schrittes zu ihrem ewigen Tod geführt werden.

 Einst pflegte Caligula in seiner Wut zu befehlen: ‚So schlag ihn, damit er spürt, dass er stirbt.’ Das ist’s, was auch denen widerfährt, die ihr Geist täglich wie ein Scharfrichter mit kleinen Stichen peinigt. Lass dich nicht von ihrem Glanz beeindrucken! Von ihrer Macht, ihrem Reichtum. Denn die, die mit Fieber oder Gicht auf einem purpurnen Bett liegen, sind doch deshalb nicht glücklicher und zufriedener als die Gesunden.

 Du siehst, wie in irgendeiner Geschichte ein armseliger Bettler

C 2.14.87 die Maske eines Königs trägt, gülden und schön. Du siehst, aber du neidest nicht. Denn du weißt, unter all jenem Geld liegen Krätze, Schmutz und Unflat verborgen. Denke nun ebenso von solchen großen und überheblichen Tyrannen. Von ihnen sagt Tacitus: ‚Würde man ihre Herzen aufschließen, könnte man eine Menge blutiger Wunden und Stiche sehen, denn wie Körper mit Schlägen, so werden Geist und Seele von Wut, Gier und bösen Gedanken zerfleischt.’[20]

Ja, ich gebe es zu, sie lachen oft; aber kein wahrhaft herzhaftes Lachen. Sie freuen sich, aber es ist keine echte Freude. Fürwahr, nicht mehr als bei denen, die im Kerker der Todesstrafe harren und sich mit Würfelspielen über ihr Schicksal hinwegzutäuschen versuchen – und es doch nicht vermögen. Denn es bleibt ihnen der implantierte Schrecken der drohenden Strafe, und es hebt sich niemals das Bild des bleichen Todes von ihren Augen hinweg. Schau mir doch nur – wenn du Lust hast und die Hüllen der Äußerlichkeiten mal wegnimmst – jenen sizilianischen Tyrannen (Dionysos) an: ‚Dem hängt gebunden ein Schwert über dem gottlosen Genick.’[21]

Hör doch jenen Römer[22] jammern: ‚Götter und Göttinnen mögen nicht übler mich zugrunde richten, als ich selbst täglich fühle zugrunde zu gehen.’[23]

Und hör noch den anderen aufseufzen: ‚Also ich allein hab’ weder Freund noch Feind.’[24]

Das ist die wahre Folter des Geistes, Lipsius, dies sind Martern: immerwährende Angst, Reue und Furcht.

Demgegenüber hält kein hölzernes Folterpferd, kein Strick, der Gelenke aus dem Körper reißt, kein Haken, der dem Delinquenten in den Hals geschlagen wird, irgendeinem Vergleich stand.

 

 


C 2.15.87  Kapitel 15

 

Nachfolgende und äußerliche Strafen

Letztere mit einigen Beispielen belegt.

 

  F  

                                 üge zu dem vorher gesagten nun noch die nachfolgenden

                                 ewigen Strafen: Diesbezüglich beschränke ich mich auf den

 Hinweis ihrer Behandlung in der Theologie, ohne sie eingehend darzulegen.

 Nimm jetzt auch noch die äußeren Strafen hinzu. Doch wer wollte die himmlische Gerechtigkeit zu Recht schelten, wenn sie ausblieben? Wo doch die erstgenannten mit Sicherheit auferlegt werden!

 Doch sie bleiben ja gar nicht aus. Nie oder selten ist es vorgekommen, dass offensichtliche Untat nicht auch sichtbare Strafe erlitt. Bei den einen geht es schneller, bei den anderen langsamer; bei den einen trifft es sie selbst, bei den anderen ihre Angehörigen.

Beispiele göttlicher Du beklagst, das Dionys[25] in Sizilien über Jahre hinweg ungestraft

Strafen: Dionys Unzucht, Raub und Mord verübt. Aber warte nur ein wenig:

C 2.15.88 Dann wirst du sehen, wie derselbe bald in Schande, heimatlos und – Wer hätte es gedacht? – arm vom Zepter zum Stock abgestiegen ist. Einst König einer großen Insel wird er zu Korinth eine Schule eröffnen, wahrhaftig ein Spiel des Schicksals![26]

Pompeius und Caesar Rümpfst du anderswo die Nase darüber, dass Pompeius[27] und fast das ganze Senatsheer bei Pharsalus geschlagen wird? Dass ein Tyrann eine Zeit lang in Bürgerblut watet und wütet? Ich nehme es dir nicht übel. Seh’ ich doch das Fehlurteil selbst eines Cato,[28] wie er mit schwacher Stimme aus tiefstem Herzen klagt: ‚Die göttlichen Dinge hegen viel Finsternis.’

 Aber du, Lipsius, du Cato, wendet eure Augen doch nur mal ein wenig hierher. Ein einziges aufmerksames Hinschauen söhnt euch wieder aus mit eurem Gott. Seht doch nur den Caesar,[29] hochmütig, siegreich, seiner und anderer Meinung nach schon ein Gott, – im Senat und vom Senat getötet. Nicht einfach so dahin, sondern mit 23 Stichen hingerichtet, wälzt er sich in seinem Blut wie ein wildes Tier. Was wollt ihr mehr? In der Kurie des Pompeius, überragt von der Statue des Pompeius, ein großes Opfer, einem Großen von Hand bereitet.

 So habe auch ich Mitleid, wenn Brutus auf dem Schlachtfeld bei Philippi für das Vaterland und mit dem Vaterland stirbt. Aber ich finde auch Trost darin, wenn nicht lange danach die siegreichen Heere, gleichsam an seinem Grab, nach Art der Gladiatoren sich feindlich begegnen. Und einer von den Heerführern, Marc Anton,[30] zu Lande und zu Wasser besiegt, zwischen drei Weibern mit seiner weibischen Hand kaum in der Lage ist, sich selbst den Tod zu geben. Wo bist du, vor kurzem noch der Herr des Ostens? Aufwiegler der römischen Heere? Schlächter des Pompeius und der Republik? Hah! Am Strick hängst du mit blutigen Händen. Kriechst bei lebendigem Leibe in dein Grab. Nicht mal sterbend wirst du von der gerissen, die der Grund deines Todes ist. Nun schau, ob Brutus,[31] als es ans Sterben ging, vergeblich jenes Gebet aushaucht: ‚O, Gott, dass verborgen dir nicht bleibe, wer Ursach’ dieses Bösen ist.’

 In der Tat, er blieb nicht verborgen und konnte seiner Strafe nicht entkommen. Ebenso ging es dem anderen Heerführer, Octavian,[32] der die Strafe seiner jugendlichen Verbrechen nicht im Geheimen an sich, sondern weit offensichtlicher an seiner Familie erlitt. Soll er doch der erfolgreiche und große Caesar sein und wahrhaftig Augustus; und doch ist er mit seiner Tochter Julia geschlagen und seinem Enkel. Andere Enkel hat er durch List oder Gewalt verloren, wieder andere verstoßen. Aus Ekel über seine Brut wollte er durch viertägiges Fasten aus dem Leben scheiden, und vermochte es doch nicht. Mag er schließlich mit seiner Livia

C 2.15.89 leben, der schändlichen Braut und ehrlosen Frau. In sie ist er mit unsittlicher Gier verliebt, und durch sie erfährt er seinen unrühmlichen Tod.[33]

 ‚Alles in allem’, sagt Plinius, ‚hat jener Gott den Himmel, ich weiß nicht recht, mehr erlangt als verdient und scheidet aus dem Leben, beerbt vom Sohn seines Feindes, Tiberius.’[34]

 Solches solltest du bedenken, Lipsius, wenn mal wieder die Klage über Ungerechtigkeit dich aus dem Gleichgewicht reißt. Und wende deine Aufmerksamkeit immer auf zwei Aspekte: die Langsamkeit göttlicher Bestrafung und deren Vielfalt.

 Jener da wird jetzt nicht bestraft? Warte. Er wird bestraft! Nicht am Körper? Aber vielleicht an der Seele! Nicht zu Lebzeiten? Aber sicher nach dem Tod! ‚Vorangegangenem Übel folgt immer die Strafe auf dem Fuß.’[35] Das Auge Gottes wacht immer. Und wenn du denkst, es schläft, dann blinzelt’s nur durch die Finger.

Sei du nur gerecht gegen ihn, und klage deinen Richter nicht selbstgefällig an, von dem du selbst noch gerichtet werden musst.

 

 


C 2.16.89  Kapitel 16

 

Widerlegung des 2. Vorwurfs: Bestrafung Unschuldiger. 

Alle verdienen Strafe, da alle in der Schuld leben. 

Wer mehr oder weniger schuldig ist, kann der Mensch nicht entscheiden. 

Gott allein sieht das Böse und deshalb ist sein Strafen sehr wohl gerecht.

 

 D   

                               ennoch, sagst du, werden zuweilen unschuldige Völker

                               gestraft. Denn das war sie doch, deine zweite Klage –

 oder besser Schande. Vorlauter Jüngling! Was für Worte: Bestrafung Unschuldiger?! Wo also hast du unter den Völkern denn welche gefunden, ganz ohne Schuld? Es wäre schon Gutgläubigkeit, besser Leichtfertigkeit, wolltest du das von einem einzelnen Menschen behaupten; und du zögerst nicht, ganze Völker als ohne Fehl dahinzustellen. Vergebens! Denn wir sündigen und haben alle gesündigt; so ist mir gewiss: Wir sind in Schmutz geboren, und wir leben in Schmutz. Ich möchte mit dem Satyricon scherzhaft formulieren: ‚Im Zeughaus des Himmels gäb’s kein Geschoss mehr, wenn die, die’s verdient, immer Opfer seiner Pfeile geworden wären.’[36]

 Du kannst nicht davon ausgehen, dass es mit uns wie mit den Meeresfischen ist: die im Salz geboren und genährt dennoch nicht den Salzgeschmack auf den Tisch bringen. Die Menschen stecken im Dreck dieser Welt und bleiben darin.

 Wenn nun aber alle schuldig sind, wo sind dann bitte deine unschuldigen Völker? Die Strafe ist immer und sehr zu Recht der Weggefährte der Schuld. Aber du sagst, mir gefällt nicht, die

C 2.16.90 Unausgewogenheit: da werden die gedrückt, die sich weniger vergangen haben, die aber, die gewütet, gedeihen und herrschen. Nun, das war’s dann wohl! Ich glaube, du wirst noch die Waage aus den Händen der göttlichen Gerechtigkeit reißen und in deinem Sinn und Maß justieren. Denn wohin anders zielt dein Vor-

Recht und Unrecht haben über Recht und Unrecht, das du dir herausnimmst vor

1. Argument Gott? Aber, Lipsius, bedenke der Dinge zwei: Erstens der Mensch kann gar nicht fremde Schuld einschätzen, und er soll es auch nicht! Denn wie soll das auch funktionieren? Du Menschlein möchtest die Vergehen gerecht und gleich abwägen, die du nicht einmal bemerkst? Du möchtest diese wie durch eine Gesetzmäßigkeit unterscheiden, die du nicht mal siehst?

 Denn das gibst du mir doch wohl zu: Es ist die Gesinnung, die sündigt. Mit Hilfe des Körpers zwar und dem Instrument der Sinne, doch so, dass alle Größe und jedes Gewicht des Verbrechens von dem Geist herrührt, der die Absicht darauf hegt. Dies hat einen derartigen Wahrheitsgehalt, dass, wolltest du behaupten, jemand habe gegen seinen Willen gesündigt, er überhaupt keine Sünde begangen hat. Wenn an dem aber so ist – ich flehe dich an – wie um alles in der Welt willst du das Vergehen selbst sehen, wenn du nicht seine wahre Brutstätte erkennen kannst?[37]

 Denn fürwahr einen fremden Geist kannst du nicht völlig durchdringen, wie übrigens auch nicht deinen eigenen. Es ist also deine große Eitelkeit und Leichtfertigkeit, dir das Zensorenamt über eine Sache anzumaßen, die du nicht gänzlich durchdrungen hast und die du auch nicht erkennen kannst.

2. Argument Zweitens bedenke folgendes: Wenn es sich nun mal so verhält, liegt darin weder etwas Böses noch Ungerechtes. Es ist nichts Böses, weil es ja zum Guten derer dient, die da sogleich bestraft werden, selbst beim geringsten Vergehen. Das bedeutet göttliche Liebe: Die beargwöhnte Langsamkeit ist immer gerecht, weil ihr die härtere Strafe anhängt. Ebenso ist es nicht ungerecht, da wir, wie ich ausgeführt habe, alle Strafe verdienen. Und auch bei den Besten gibt es niemals eine solche Reinheit, dass nicht noch irgendwelche Makel übrig wären, die vom Salzwasser der Unglücke gleichsam ausgewaschen werden müssen.

 Deshalb, junger Mann, lass ab von diesem verzwickten Zank über die Einschätzung von Schuld. Du bist nur ein irdischer Hilfsrichter! Überlass diese Aufgabe Gott, der um einiges gerechter und sicherer darüber von seinem himmlischen Tribunal aus urteilt. Er allein kann die Verdienste abwägen; er sieht Tugend und Laster ohne irgendeine Schminke und Färbung der Täuschung – so wie sie wirklich und an sich selbst sind. Wer wollte ihn, der äußeres wie inneres gleichermaßen erforscht, betrügen? Der den Körper sieht und den Geist, konkrete Worte versteht wie versteckte Feinheiten, alles Offene, wie auch das Verborgene?

 Der dann nicht nur die Taten selbst, sondern auch ihre Ursachen und Entwicklungen in klarem Lichte schaut.

 Als Thales einst gefragt wurde, ‚ob ein Mensch, der Unrecht tue, den Göttern entgehen könne,’ hat er zutreffend geantwortet,

‚Auch nicht einer, der bloß daran denkt.’[38]

C 2.16.91 Wir dagegen hier in unserem Nebel sehen nicht nur die verborgenen Verbrechen, die sub tunica, unter dem Gewand, und im Herzen geschehen nicht, sondern bemerken ja kaum die offensichtlichen und ans Licht gezogenen. Denn wir erkennen nicht die Schuld selbst und ihre Stärke, sondern nur undeutliche Spuren des Begangenen und schon Entschwindenden.

 Uns erscheinen oft die die Besten zu sein, die für Gott die Schlimmsten sein mögen, und im Gegenzug die die Verdammten, die für ihn die Auserwählten sind.

 So, bist du klug, schließt du Mund und Augen, was verdiente oder unverdiente Strafen angeht; die so verborgenen Ursachen können in Gänze nicht gut erkannt werden.

 


C 2.17.91  Kapitel 17

 

Entgegnung des dritten Vorwurfs, von den übertragenen Strafen. 

An Beispielen wird gezeigt, dass dies auch bei Menschen vorkommt.

Gottes Gründe und subtile Kuriositäten.

 

 D   

                               och auch die dritte Wolke, mit der du die Gerechtigkeit

                               umgeben hat, muss ich beseitigen: von wegen der verschobenen Strafen. Denn, so heißt es, Gott überträgt in ungerechter Weise die Strafen, und die Sünden der Vorfahren büßen hart deren Nachkommen. Hm! Ist das etwa so neu und verwunderlich? Da wundere ich mich doch, dass die Verwunderer sich wundern, wenn doch sie selbst täglich solches auf ihrer Erde verüben. Sag

Menschliche doch: Geht nicht etwa eine Gunstbezeigung, die den Vorfahren

Gepflogenheiten von einem Fürsten wegen einer besonderen Leistung verliehen wurde, auch auf deren Nachkommen über? Aber sicher tut sie das! Und nicht anders verhält es sich bei den Strafen, denke ich, die diesen wegen eines Verbrechens auferlegt wurden. Schau nur bei Landesverrat oder Majestätsbeleidigung, da ist es doch ganz offensichtlich, dass oft die einen in der Schuld stehen, die anderen aber die Strafe erleiden. Und so weit geht da die menschliche Wut, dass sogar Gesetze erlassen werden, die unschuldige Kinder mit ewiger Not strafen, so dass der Tod ihnen eine Erlösung, das Leben aber zur Pein gerät.

 Ihr seid doch üblen Geistes: Irgendeinem König oder Machthaber wollt ihr solches Gebaren zugestehen, doch nicht eurem Gott! Der doch, wenn du es genau betrachtest, nicht weniger Grund zu seiner Strenge hat. Denn wir haben gefehlt, und in einem haben wir alle aufbegehrt gegen diesen großen König. Und durch so viele Geschlechter wirst du jenen allerersten Makel bei uns unglücklichen Erben wieder finden. So gibt es also vor Gott gewissermaßen ein Band und eine Kette der Verbrechen. Und nicht mein oder dein Vater haben beispielsweise begonnen zu sündigen, sondern alle Vorväter anderer Väter. Was Wunder also, wenn Gott in den Nachkommen eigentlich nicht gänzlich andere Delikte bestraft, sondern solche in einer einheitlichen und niemals

C 2.17.92 abgerissenen Gemeinschaft der Fortpflanzung.

 Aber ich möchte diese feingeistigen Überlegungen einmal fahren lassen und einen volkstümlichen Weg beschreiten. Wisse: Gott

Einheit bei Gott verbindet, was wir aus Schwäche oder Unerfahrenheit trennen. Familien, Städte, Königreiche betrachtet er nicht als voneinander verschiedene oder miteinander bis zur Unkenntlichkeit vermengt, sondern als einen Körper und ein Wesen.

 Das Geschlecht der Scipionen oder die Reihe der Caesaren – ist ihm jeweils eine Einheit. Ob es sich um die Stadt Rom oder Athen handelt, es ist von Anbeginn an eins. Ebenso stellt für Gott das gesamte Römische Reich eine Einheit dar. Und das mit Recht! Denn es gibt ein vereinigendes Band und eine Gemeinschaft von Gesetzen und Recht, die auch diese großen Körperschaften verbinden, woraus folgt, dass auch zwischen denen, die durch die Zeitläufte getrennt sind, eine Gemeinschaft von Lohn und Strafe besteht. Waren daher die Scipionen einst gute Leute, so soll es bei dem himmlischen Richter auch ihren Nachfahren von Nutzen sein; waren sie aber böse, mag es ihnen Schaden zufügen. Waren demnach die Belgier vor Jahren zügellos, habgierig und gottlos, so leiden wir noch darunter. Denn bei jeder äußeren

Äußere Strafe Bestrafung schaut Gott nicht nur auf die Gegenwart, sondern er berücksichtigt auch die Vergangenheit. Und mit den Gewichten dieser beiden Zeiten justiert er ausgewogen die Waagschale seiner Gerechtigkeit.

 Ich habe gesagt: bei der äußeren Bestrafung. Und ich möchte, dass du das beachtest. Denn die Schuld selbst wird nicht übertragen, und es kommt auch nicht zu irgendeiner Verwechslung von Verbrechen; nichts davon! Recht betrachtet sind diese Strafen oder Züchtigungen nicht in uns, sondern um uns herum. Sie betreffen eigentlich nur den Körper und äußere Güter, nicht den inneren Geist, die Seele. Was aber soll daran ungerecht sein? Wir sind wohl gerne die Erben der Annehmlichkeiten und Vergünstigungen, sofern sie unseren Vorfahren gebührten. Warum verweigern wir uns dann der Lasten und Strafen?

 ‚Die Vergehen deiner Ahnen, Römer, wirst du unverdient büßen.’[39] So dichtet jener römische Seher. Wohl wahr, außer dass er ‚unverdient’ hinzusetzt. Äußerst verdient ist es nämlich, da die Alten es verdienten. Aber die Wirkung hat der Dichter wohl gesehen. Jedoch er stieg nicht vor bis zur Ursache. Wie wir bei einem Menschen zu Recht im Alter ein Vergehen bestrafen, das er in seiner Jugend beging, so verfährt auch Gott bei Kaiser- und Königreichen mit alten Sünden. Denn wegen der äußerlichen Gemeinschaft sind sie für Gott eines und verbunden.

Einheit der Zeit Die Abstände der Zeitläufte trennen uns nicht bei Gott, denn er hat alle Ewigkeit fest verschlossen in seinem weiten, umfassenden Geist.

 Aber sollten die kriegerischen römischen Wölfe einst so viele

C 2.17.93 Städte zerstört und so viele Zepter zerbrochen haben – und das alles ungestraft? So viel Mord und Blutvergießen – und immer ohne eigene Verluste? Dann wollte auch ich endlich eingestehen, dass es keinen rächenden Gott gibt, ‚der das, was wir hier treiben, hört und sieht.’[40] Aber so ist es nun mal nicht! Und es kann sein, dass einst die Nachkommen die Strafen büßen müssen – spät, aber nicht zu spät.

Einheit von Teilen Doch bei Gott gibt es ja nicht nur die Einheit der Zeiten, sondern auch aller Einzelteile. Folgendes möchte ich damit ausdrücken: Wenn bei einem Menschen die Hand, der Penis oder Bauch gesündigt hat, leidet der ganze Körper. So ist es auch in der politischen Gesellschaft, dass das Vergehen weniger häufig alle trifft, zumal, wenn die Übeltäter herausragende Glieder dieser Gemeinschaft sind – wie Könige, Fürsten oder Beamte.

Alle für einen So sagt Hesiod aus seiner ihm eigenen Weisheit trefflich: ‚Wenn einer sich eines Verbrechens oder einer Ungerechtigkeit schuldig gemacht, bezahlte für das Vergehen eines Einzelnen die ganze Stadt. Dann schickte Jupiter Pest und Hungersnot vom Himmel herab.’[41]

 So ging auch die gesamte Flotte aus Argolis unter ‚nur wegen der bösen Raserei des Aiax Oikus.’[42]

Und so raffte die Pest in Judäa auf einmal 70.000 Menschen dahin und zwar sehr zu Recht, nur wegen der ungerechtfertigten Gier des Königs David.[43]

Wenige statt vieler Doch dann wieder geht es auch genau nach dem Gegenteil: Da haben alle gesündigt, aber Gott wählt nur einen oder wenige aus, gleichsam als Sühneopfer der öffentlichen Schuld. Dabei weicht er von dem harten Grundsatz der Gleichheit ab, und dennoch entsteht aus dieser vermeintlichen Ungerechtigkeit eine neue Gerechtigkeit.[44] Und es ist eine milde Gerechtigkeit gegenüber vielen, die bei den wenigen als grausame Härte erscheint.

 Schlägt nicht auch der Lehrer aus der Anzahl der zügellosen Bande von Schülern irgendeinen Einzigen? Straft nicht der Feldherr wenige aus dem ganzen Heer, in dem er nur jeden zehnten tötet?[45] Dennoch handeln beide aus heilsamer Absicht, denn die Bestrafung der Wenigen schreckt nichtsdestoweniger die anderen ab und bessert alle.

 Oft habe ich Ärzte gesehen, wie sie eine Ader an Fuß oder Arm einschnitten, wenn der ganze Körper litt. Was weiß ich, ob’s hier nicht ebenso sich verhält?

Göttliches Geheimnis Denn das hier ist ein abgrundtiefes Geheimnis, Lipsius, und wenn wir klug sind, werden wir jenes heilige Feuer nicht näher berüh-

C 2.17.94 ren, davon wir Menschen nur kleine Fünkchen und unbestimmte Formen sehen können; es selbst erkennen wir nicht. Denn die, die ihre Augen direkt in die Sonne richten, erblinden. Und so verlieren die, die dies Feuer begehren, jegliches Licht ihres Verstandes.

 Ich denke, wir wollen uns also dieser neugierigen und nicht ungefährlichen Frage enthalten. Doch dies wenigstens stehe für uns fest: Menschliche Schuld können wir letztlich nicht einschätzen. Und wir sollen’s auch nicht. Bei Gott gibt es eine andere Waagschale und eine andere Gerichtsbarkeit. Und wie auch immer es sich mit diesen verborgenen Ureiteln auch verhalten mag, es ist nicht an uns, sie zu schelten, sondern zu ertragen und zu fürchten.

 Diese eine Wahrheit möchte ich dir mitgeben, dadurch ich dieser Sache ein Ende mache und gleichsam allen notorischen Nörglern das Maul stopfe: Viele göttliche Entscheidungen sind geheimnisvoll, aber keine ist ungerecht!

 


C 2.18.94  Kapitel 18

 

Übergang zur letzten Beispielsammlung.

Und ein Hinweis darauf, dass manchmal etwas leichte Kost,

einer bitteren Medizin beigemischt, dienlich sein kann.

 

 D   

                               as ist’s, Lipsius, was meines Erachtens zur göttlichen

                               Gerechtigkeit gesagt werden muss; was zwar nicht vollends

 meiner Absicht entsprach, ihr jedoch auch nicht zuwider lief. Denn zweifellos werden wir die Plagen des Lebens gelassener und freudiger ertragen in der Überzeugung, dass sie nichts Ungerechtes darstellen.“

 An dieser Stelle unterbrach Langius seinen Vortrag für eine Zeit – doch plötzlich hob er wieder an: „Es ist gut, ich habe mich erholt und alle Klippen bohrender Fragen umschifft. Jetzt kann ich wohl unter vollem Tuch dem Hafen entgegen segeln. Ich erblicke schon die vierte und letzte Marschkolonne, die ich auch noch gerne führen werde.

 Und wie den Seeleuten, die große Hoffnung schöpfen und fröhlich werden, wenn sie im Sturm das Gestirn der Zwillinge sehen, geht es auch mir, dem nach allen Gefahren eine besondere, die Doppellegion, erschien. Nach altem Brauch darf ich sie so nennen, da sie zwei Spitzen hat und ich mit ihr zwei Schlachten siegreich bestreiten muss – nämlich die Übel, die wir erleiden, sind weder schwer noch neu!

 So ich dies tue, Lipsius, bei dem Wenigen, was noch bleibt zu tun, gib mir willig und aufmerksam acht!“

 „Nichts lieber als das, Langius,“ erwiderte ich darauf, „denn auch ich freue mich, jene harten Gefilde zu verlassen, und nach der harten und strengen Medizin hoffe ich nun begierig zur leichten und eingängigen zu gelangen. Denn das hast du mir doch eingangs versprochen.“

C 2.18.95 „Da irrst du nicht,“ sprach Langius. „Denn wenn die Ärzte genug gebrannt und geschnitten haben, lassen sie den Patienten doch nicht gleich im Stich, sondern legen Verbände an und tragen Salben auf, um die Schmerzen zu lindern. So will ich’s auch mit dir halten: Denn ich glaube, mit Eisen und Feuer der Weisheit habe ich dich hinreichend gereinigt. Ich werde dich nun mit tröstenden Worten verwöhnen und – sozusagen – mit sanfter Hand führen. Ich werde vom rauen Hügel der Philosophie herabsteigen und dich ein wenig in die dir vertrauten Felder lieblicher philologischer Literatur geleiten. Und das dennoch nicht nur, um dich zu erquicken, sondern erst recht zu heilen.

 Man sagt, der Arzt Democrates[46] habe Considia, einer edlen Frau, die jeder scharfen Medizin abhold war, ganz raffiniert Milch von Ziegen eingeflößt, die er vorher mit Mastix gefüttert hatte. So werde ich dir einige nette Geschichten zu schlucken geben, die aber mit dem verborgenen Saft der Weisheit getränkt sind.

 Was kommt’s darauf an, auf welchem Weg wir den Kranken heilen, solange wir ihn nur ganz gesund machen?

 


C 2.19.95  Kapitel 19

 

Kurze Darlegung: So schwer, wie es scheint, sind öffentliche Übel nicht.

Denn meist fürchtet man unsinnigerweise das Beiwerk, nicht die Dinge selbst.

 

 A   

                               ber schon nahst du, meine Legion. Doch vor allem du, 

                               meine erste Kohorte, mit der wir erstreiten, dass die Übel

 nicht schwer seien. Diese Wirkung wollen wir mit einem zweifachen Geschoss erzielen: dem der Vernunft und dem des Ver-

Vernunft gegen gleichs. Wenn du mit Vernunft an die Sache herangehst, ist tat-

Meinung sächlich nichts, was uns bedroht, wirklich schwer oder groß, sondern es erscheint nur so. Es ist unsere Meinung, unser Wähnen, welches die Gefahren aufbläst und sie, wie mit Kothurnen[47] auf einer Theaterbühne größer erscheinen lässt, als sie sind.

 Wenn du schlau bist, nimm diese Täuschung einmal weg und schau dir die Dinge bei hellem Licht an.

 Du fürchtest bei Unglücken Armut, Exil und Tod. Wenn du dir die aber mit rechtem und festem Blick anschaust, was bedeuten sie dann noch? Wenn du sie auf ihr Gewicht hin prüfst, wie leicht mögen sie dann sogar werden? Krieg und Tyrannei plündern dich

Armut mit ihren vielen Abgaben aus bis auf’s Hemd. Was dann? Du wirst arm! Aber hat die Natur dir nicht gegeben? Kann sie nicht auch nehmen? Doch wenn dir traurige und schlimm klingende Bezeichnungen missfallen, tausch sie aus – und du wirst frei sein. Denn das Schicksal hat dir einen Gefallen erwiesen, falls du es noch nicht gemerkt hast, und dich auf die sichere Seite gestellt.

C 2.19.96 Das nimmt dir keiner mehr! Was du für eine Katastrophe hältst, ist ein Heilmittel.

Exil Aber ich werde auch ein Verbannter sein, ein Fremder, ein Ausländer – ich hör schon dein Klagen. Aber wenn du deine innere Haltung änderst, bekommst du eine neue Heimat. Der Weise ist überall, wo er auch sei, auf der Reise. Ein Dummkopf lebt immer in Verbannung.

Tod Aber, geht’s weiter, mir droht doch der Tod vom Tyrannen. Nicht täglich auch von Natur aus? Aber jener durch Schwert
oder Strick ist doch schändlich. Narr! Nicht der oder jener Tod ist schändlich, es sei denn, dein Leben ist’s. Schau, von Anbeginn der Welt an hat es immer wieder die besten und berühmtesten Leute mit Gewalt aus dem Leben gerissen.

 Wende diese Methode bei allen Dingen an, Lispius, die dir schrecklich erscheinen (denn ich habe dir ja nur einen Vorgeschmack geboten), und schau sie dir nackt an – ohne Kleid und Maske der irrigen Meinung.

 Doch wir Ahnungslosen wenden uns immer wieder dem Eitlen und Äußerlichen zu. Wir fürchten nicht die eigentlichen Dinge, sondern das, was diese umgibt. Sieh, wenn du auf’s Meer segelst, das Land schwindet und du die offene See erreichst, schwindet dir auch der Mut und du erzitterst, als ob du bei einem Schiffbruch den ganzen Ozean austrinken müsstest. Dabei reicht doch schon der ein oder andere Schoppen.

 Wenn plötzlich ein Erdbeben entsteht, schreist du und hast Angst? Du denkst, die ganze Stadt wird, wenn sie zusammenfällt, auf dich stürzen; oder sicher doch ein Haus. Dabei lässt du völlig außer Acht, dass irgendein läppischer Stein ausreicht, dein armes Hirn zu zerschmettern.

 So verhält es sich auch bei den Katastrophen: Es schrecken uns besonders der Lärm und das unbedeutende Aussehen der Bilder, die uns vor Augen treten.

 Hah, da das von Leibwächtern eines Mächtigen, da die Schwerter. Und? Was sollen diese Spießgesellen, diese Mordbuben? Was ihre Schwerter? Was werden sie tun? Sie morden! Was bedeutet Mord? Einfach Tod! Oh, damit nicht der Name dich erschrickt: die Trennung der Seele vom Körper!

 All die Kriegsheere, all die drohenden Schwerter verrichten dasselbe wie ein Fieber, ein Traubenkern,[48] wie ein einziger Wurm. Und keinesfalls härter, sondern im Gegenteil sanfter. Denn das Fieber, das du dir wohl lieber wünschst, quält den Menschen oft ein ganzes Jahr; hier ist’s im Nu vorbei. Sokrates pflegte dies alles trefflich Popanz oder ein Schreckgespenst zu nennen.[49] Siehst du nicht, wie Kinder vor dir weglaufen, wenn du dir so eine Maske vor’s Gesicht hältst? Leg sie aber wieder ab und zeig dein wahres Gesicht, kommen sie wieder auf dich zu und fallen dir um den Hals.

 So ist es auch hier: Wenn du die Umstände ohne ihre Verkleidung und ohne ihre scheinbare Größe betrachtest, musst du eingestehen, dass deine Furcht kindisch war. Es ist wie mit dem Hagel, der mit großem Getöse auf die Dächer gefallen, dann selber zerspringt: An einem starken Geist werden die Anfeindungen zerbrochen – sie brechen ihn nicht!“

 


[1] Vergil, Aeneis 6.620.

[2] Arist. Rhet. 1369b12, Kolasis ist Strafe aus der Sicht dessen, der sie erleidet; Timoria Rache desjenigen, der sie vollstreckt.

[3] Boethius, Cons. 4.p4.45f.

[4] Hierzu Hintergründe in Weisheit S. 159ff.

[5] Der biblische Hintergrund: Buch Weisheit 11,20.

[6] Das Ganze hier: „summa summarum“.

[7] In einer Randnotiz (n.5) zitiert Lipsius das dem Heraklit zugesprochene Wort vom „Krieg als dem Vater aller Dinge“. Zum traditionellen Missverständnis dieses (das kosmische Prinzip der Gegensätze betreffenden) Satzes s. Weisheit S. 160, Anm. 60.

[8] Vir. übersetzt seinerzeit „Franzosen“ (und lässt das „nos“ für „wir“ an der Originalstelle weg) und „wir Deutschen“ (da setzt er es wieder hin). Doch schon beim großen Caesar im Bellum Gallicum lesen wir von den Belgern als dem tapfersten Volk der Gallier. Unter der Berücksichtigung, dass wir Lipsius schon an früherer Stelle (Kap. 7 und Anmerkung 4) als einen belgischen Autor kennengelernt haben, vermeiden wir hier die vereinnahmende Formulierung, die ihn zu einem französischen machen würde. Mit höflicher Entschuldigung nach Paris und Umgebung.

[9] Sen. ep. 74,20

[10] Zu den Fragen an die göttliche Gerechtigkeit s.a. Weisheit S. 162ff.

[11] Lukretz, De rer. nat. II 1103f.

[12] Zu Gott als Erstursache s. Weisheit S. 163.

[13] Salvianus, De gubern. dei 1.30

[14] Lipsius wandelt hier ein Tacitus-Zitat ab (Tac. Ann. 1.6). Eine ausführliche Diskussion der Problematik dieser Stelle in Weisheit. S. 163, Anm. 69.

[15] Synesius, De prov. (PG 66,1273B).

[16] Atreus und Thyestes, die verfeindeten Brüder u.a. im Kampf um die Herrschaft über Mykene, s. Seneca, Thyestes und Aischylos, Agamemnon.

[17] Nemesis, Göttin der Rache, s.u.a. Hesiod, Theogonie 223f.

Auffallend, dass Viritius in seiner frühen Übertragung des 17. Jahrhunderts die Göttin unterschlägt und in „Straffe“ verwandelt. Auch der folgende Euripides fällt (wahrscheinlich) der Christianisierung zum Opfer.

[18] Plato, leg. 728c3.

[19] vgl. Hesiod, Werke und Tage 258-261, 282-284.

[20] Tacitus, Ann. 6.6, vgl. Plato, Gorg. 524e.

[21] Zu Dionys Horatz, Carm. III 1.17, s.a. Cic. de off. 2,25 Dionys. I, Cic. de nat. deor. 3.81.

[22] Die Randnotiz (n. 2) nennt Tiberius, aus einem Brief an den Senat.

[23] Tacitus, Ann. 6.6. Die demütige Vorsicht des Viritius (Vir. 113) verkehrt die Götter und Gottinnen ind „Alle Teuffel“.

[24] Randnotiz (n. 3)nennt dies die Worte des sterbenden Nero. Sueton, Nero 47.3.

[25] Dionysius der Jüngere, s. Justinus 21.1.ff, Cic. Tusc. 3.27.

[26] Lipsius greift hier zu einem lateinischen Wortspiel, indem er beide Male das Wort „ludus“ verwendet, das sowohl Spiel als auch Schule bedeuten kann: „Rex ludum aperiet“ und „Fortunae verus ludus“.

[27] Plutarch, Pompeius 68ff.

[28] Plutarch, Cato minor 53.2.

[29] Plutarch, Brutus 17, Caesar 66.

[30] Plutarch, Antonius 77.

[31] Plutarch, Brutus 51.1.

[32] Sueton II 65ff.

[33] Die Glosse (n.1) verweist auf den Verdacht des Giftmordes der Livia.

[34] Plinius, Nat. Hist. VII 150.

[35] Horaz, Carm. 3.2.31

[36] Juvenal 13,78ff und 13.83.

[37] Zur Gesinnungsethik bei Lipsius s. a. Weisheit 168f.

[38] Thales bei Diog. Laert. 1.36.

[39] Horaz, Carm. 3.6.1.

[40] C 2.17.93, Rn. 1 „Aus Plautus, Captivi (313)“.

[41] C 2.17.93, Hesiod, Werke und Tage 240-243.

[42] C 2.17.93, Vergil, Aeneis 1.39-41, Odys. 4.499ff. 5.108ff.

[43] C 2.17.93, Rn. 3 verweist auf eine Volkszählung (2. Sam. 24,10ff), vgl. 1. Chronik 21,1-6 und 7ff. Diese Volkszählung wird als Verführung Davids durch Satan dargestellt, der sich damit gegen die Vorrechte Gottes, des alleinigen Herren der Familien und Völker versündigt.

[44] C 2.17.93, Rn. 4 verweist auf Tacitus, um Härte gegen Einzelne zum Wohle des Ganzen zu rechtfertigen. (Tac. ann. 14.44, dort votiert Cassius für abschreckende Härte gegen Sklaven, deren Herr ermordet wurde.)

[45] Ebenfalls Tac. Ann. 14.44.

[46] Plin. Nat. Hist. 24.28.

[47] Hochschuh des Schauspielers.

[48] Siehe den Tod des Anakreon, Plin. Nat. Hist. 7.7.

[49] Platon, Phaidon 77e7; Kriton 46c4 u.a. s. Weisheit 172, Anm. 5.

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