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C 1.7.27  Kapitel 7

 

Zwei Anfeindungen können die Constantia verunsichern:

Äußere Güter und Übel.

Letztere sind unterteilt in öffentliche und private Mala

von denen wiederum die ersteren die gefährlichsten darzustellen scheinen.

 

 D

                                       a Langius dies schärfer und ernster, als er es sonst zu tun

                                       pflegte, gesagt hatte, ergriff auch mich ein Funke des guten

 Feuers der Weisheit. „Mein Vater“, sprach ich, „(und so nenne ich dich aufrichtig) führe mich, wohin du willst, und lehre mich, weise mich zurecht und leite mich. Du hast in mir einen Kranken, der für jede Medizin bereit ist, sei es, dass du an Eisen denkst oder an Feuer.“ „Wohl beides gleichermaßen“, antwortete Langius. „Denn zum einen muss ich dir die Stoppeln deiner grundlosen Wahnvorstellungen ausbrennen, dann wieder die Stämme deiner Affekte mit der Wurzel heraushauen.[1]

 Aber sollen wir noch weiter herumgehen, oder ist es besser und dir angenehmer, jetzt zu sitzen?“ „Lass uns sitzen“, bat ich, „denn mir wird ohnehin schon ganz heiß.“ Langius ließ Stühle bringen und in das Atrium stellen. Ich setzte mich ganz in seine Nähe, und er begann mir zugewandt aufs Neue seine Ausführungen:

 „Bis jetzt, Lipsius, habe ich lediglich das Fundament gelegt, auf dem ich leicht und sicher meine weitere Rede aufbauen werde.[2] Jetzt gehe ich, wenn es dir recht ist, der Sache auf den Grund und erforsche die Ursachen deines Leidens. Ich werde, wie man

Zwei Gegner der sagt, die Hand auf deine Wunde legen. Zwei Gegner rennen

Constantia gegen unsere innere Festung der Constantia an: vermeintliche Güter und scheinbare Übel.

 Beide bezeichne ich so, weil sie nicht wirklich in uns, sondern um uns herum sind und da sie dem inneren Menschen, dem Geist und Verstand, tatsächlich weder nützen noch schaden.[3] Daher behaupte ich, dass sie, von der Sache her und mit Logik betrachtet, überhaupt keine Güter oder Übel sind, sondern vielmehr der Einbildung entstammen sowie einer irrigen landläufigen Auffassung. Zur ersten Gruppe zählen: Reichtum, öffentliche Anerkennung und Ehrbezeigung, Macht, Gesundheit und langes Leben. Zur zweiten: Not und Armut, Schmach und Schande, Ohnmacht, Krankheit und Tod – mit einem Wort – alles andere, das zufällig

C 1.7.28 und äußerlich ist.

Vier Hauptaffekte Aus dieser verruchten zweifachen Wurzel entstehen in uns die vier Hauptaffekte, die das ganze menschliche Leben bestimmen und zerstören: Begierde und maßlose Freude sowie Furcht und Kummer.[4] Von denen richten sich die beiden ersteren auf ein vermeintliches Gut. Von diesem rühren sie auch her. Die beiden letzteren blicken auf ein entsprechendes Übel. Sie alle schädigen und verwirren den Geist, und wenn du dich nicht vorsiehst, werfen sie ihn aus seinem ausgewogenen Zustand, und das nicht nur auf eine Weise.

 Gemütsruhe und Beständigkeit des Geistes sind mit einer ausgeglichenen Waage vergleichbar. Die Affekte nun stoßen den Geist aus diesem Gleichgewicht, jene, indem sie ihn über das Maß emporheben, diese, indem sie ihn niederdrücken. Jedoch das scheinbar Gute und besagte Erhebung des Gemüts lasse ich jetzt einmal außen vor. Sie machen nicht deinen Krankheitszustand aus. Ich komme also zu den scheinbaren Übeln, und die treten wiederum in zweifacher Hinsicht auf.

Öffentliche und Es gibt nämlich öffentliche und private.

private Übel Das öffentliche Übel definiere ich folgendermaßen: Das Empfinden und Wahrnehmen desselben erstreckt sich zu ein und derselben Zeitspanne auf mehrere Menschen. Dagegen betrifft das private Einzelpersonen.

 Zu jenem rechne ich: Krieg, Pest, Hungersnot, Tyrannei und Massenmord und was sonst den Staat und das Gemeinwohl angeht.               Zu diesem zähle ich: Schmerz, Armut, persönliche Schmach, Tod und was wir auf einen einzelnen Haushalt oder Menschen begrenzt betrachten. Es erscheint mir nicht als Haarspalterei, hier grundlegend zu unterscheiden. In der Tat trauert derjenige auf andere Weise und mit anderem Empfinden, der die Niederlage des Vaterlandes, die Verbannung und den Untergang vieler betrauert, als der, der nur sein Einzelschicksal bejammert. Hinzu kommt, dass jeweils verschiedene Krankheitszustände aus den genannten Unglücken resultieren. Aber, wenn ich mich nicht täusche, die schwerwiegenderen aus den erstgenannten – mit Sicherheit die hartnäckigsten.

 Denn den öffentlichen Übeln sind die meisten von uns ausgesetzt, sei es, dass sie mit Gewalt und in Massen hereinbrechen und den, der widerstehen will, mit voller Wucht überfahren; sei es mehr noch, dass sie uns mit einem gewissen Ehrgeiz schmeichelnd umgarnen und wir oft nicht merken, ja gar nicht wahrnehmen, dass aus ihnen heraus in unserem Geist eine Krankheit entsteht.

 Schau, wenn einer an einem privaten Unglück leidet, ist es zwangsläufig, dass er sein Gebrechen und seine Schwäche zugibt. (Wie wollte er sie auch beschönigen?)[5]

 Nun aber komme ich zu dem, der sich keineswegs sein Unheil eingesteht, der vielmehr damit prahlt und es sich zum Lobe anrechnet. Man spricht nämlich landläufig gern von Vaterlandsliebe und Mitleid.[6] Und wie schnell wird dieses öffentliche Fieber zur Charakterstärke gerechnet oder gar in göttliche Gefilde erhoben? Die Dichter und Rhetoren loben es ausnahmslos und drängen geradezu zu einer glühenden Liebe zur Heimat.

 Nun will ich diese nicht völlig verteufeln, aber ich bin doch entschieden der Ansicht, dass sie gemäßigt und unter die Führung der Vernunft gestellt werden muss.

C 1.7.29 Denn tatsächlich handelt es sich bei der Vaterlandsliebe um ein Laster, eine Unbotmäßigkeit, die der herausragenden Stellung des Geistes unangemessen ist. Andererseits ist sie eine schwere Krankheit: In dieser Liebe steckt nicht nur ein einziger Schmerz, sondern dein eigener und damit verbunden ein auf Fremdes abzielender. Letzterer ist ebenfalls zweifach zu sehen – einmal richtet er sich auf die Menschen, zum anderen auf das Land.

 Damit du ein Beispiel für das hast, was ich scheinbar so spitzfindig vortrage, schau dir doch dein Belgien[7] an: Dein Land wird derzeit nicht nur von einem Ungemach heimgesucht. Überall ist es von der Flamme des Bürgerkrieges umgeben. du siehst allenthalben, wie Landschaften verwüstet und geplündert, Städte gebrandschatzt und zerstört, Menschen ihrer Freiheit beraubt und gemordet werden. Frauen werden geschändet, die Zahl der Jungfrauen schwindet und was sonst der Krieg so mit sich bringt.

 Daraus soll dir kein Schmerz erwachsen? Doch, mit Sicherheit, aber ein vielschichtiger, wenn du es genau betrachtest. Denn zugleich beweinst du dich selbst, deine Mitbürger wie auch deine Heimat. Was dich angeht, trauerst du um persönlichen Schaden und Verlust, bei deinen Mitbürgern beweinst du Tod und Verderben, bei deinem Land die Zerstörung und Vernichtung der bestehenden Verhältnisse und damit des Wohlstands. Hier rufst du: ‘Oh, ich Elender, Armer’; dort: ‘So viele, meine Landsleute, seid ihr Unheil und Tod durch feindliche Hand entgegengestrebt’; schließlich jammerst du ‘Oh Vater, Oh Vaterland.’[8]

 Wen dies alles kalt lässt und wen die Schärfe und Masse all dieser losbrechenden Übel nicht anficht, der muss entweder sehr nüchtern und weise oder sehr hartherzig sein.


C 1.8.29  Kapitel 8

 

Rede gegen das allgemeine öffentliche Übel.

Vorrangig werden drei Affekte gebändigt.

Unter diesen hauptsächlich die eitle Selbsttäuschung:

Durch diese beweinen die Menschen ihre eigenen Unglücke, 

als wären es öffentliche.

 

 W

                                       ie stehts’s Lipsius? Habe ich lange genug meine Constan-

                                       tia vernachlässigt und die Ursache deines Schmerzes er-

 forscht? Aber ich habe gehandelt wie eine beherzter und tapferer Feldherr: Ich habe alle deine Truppen in die offene Feldschlacht gelockt. Mit denen werde ich nun entschlossen den Kampf aufnehmen; zunächst jedoch in einer Art Geplänkel, dann erst suche ich den offenen Kampf in einem förmlichen Treffen. Im Vorgeplänkel allerdings muss ich (um es mit den Alten zu sagen) in einem ersten Angriff drei Affekte niederschlagen, die unserer Constantia feindlich gesinnt sind: die Selbsttäuschung, die unbesonnene Vaterlandsliebe und das Mitleid. Aber erstere an erster Stelle.

 Du behauptest, die öffentlichen Plagen nicht aushalten zu können, sie seien dir derart schmerzhaft, du wollest sogar lieber

C 1.8.30 sterben. Meinst du das im Ernst? Oder ist das hier solch ein

Selbsttäuschung Selbstbetrug, eine Verstellung?“

Simulatio Ziemlich erregt entgegnete ich: „Fragst du das etwa im Ernst, oder machst du dich über mich lustig?“ „Allerdings meine ich es ernst!“ antwortete Langius. „Es gibt nicht wenige in eurem Lazarett des Geistes, die die Ärzte hinters Licht führen und einen Schmerz über öffentliches Unglück vortäuschen, tatsächlich jedoch nur ihr eigenes vor Augen haben.

 Ich frage dich also, bist du dir darüber im Klaren, ob die Sorge, die dich momentan beunruhigt und dir zu Herzen geht, wirklich wegen des Vaterlandes entsteht oder nicht doch aus Angst um deine Person?“

 „Zweifelst du etwa?“ hielt ich dagegen. „Es geht mir allein um die Heimat, Langius, allein dem Vaterland gilt meine Trauer.“

 Langius erwiderte darauf mit einem Kopfschütteln: „Mein Junge, gib genau acht. Denn wenn in dir eine derart starke und reine Vaterlandsliebe ist, sollte es mich wundern: Es gibt sie nur bei wenigen! Ich gebe zu, wir Menschen klagen oft über öffentliche Übel, und kein anderer Schmerz ist derart allgegenwärtig und sticht einem mehr in die Augen. Wenn du es dir aber näher betrachtest, findest du meistens eine Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Bekenntnis und der echten Gesinnung.[9] Die Worte ‘Das Unglück des Vaterlandes rührt mich an’ sind ehrsüchtig, nicht aufrichtig. Sie kommen nicht von innen heraus, sondern sind lediglich Lippenbekenntnisse. So heißt es von Polus,[10] dem berühmten Schauspieler, er habe, als er in Athen in einem Theaterstück auftrat, in dem er große Trauer ausdrücken musste, heimlich den Leichnam seines verstorbenen Sohnes in einer Urne herein tragen lassen und so das ganze Theater mit aufrichtigem Klagen und Weinen erfüllt. Genau dasselbe möchte ich von den meisten von euch behaupten: Ihr guten Leute spielt bloß Theater, und unter dem Deckmantel der Maske des Vaterlandes beweint ihr mit heißen Tränen euren eigenen Untergang.

 Die ganze Welt spielt Theater’, sagt C. Petronius Arbiter. Das trifft bestimmt auch hier zu. Man sagt zwar: ‘Dieser Bürgerkrieg quält uns, so auch das vergossene Blut Unschuldiger wie der Untergang von Freiheit und Gesetzlichkeit.’

 Tatsache?

 Ich sehe deutlich euren Schmerz. Aber ich zweifele doch an dessen wirklicher Ursache. Handelt es sich tatsächlich darum, dass es dem Staat schlecht ergeht? Komm, du Schauspieler, lege deine Verkleidung ab. Denn es geht doch nur um dich selbst. Oft, wenn Missernte oder Unwetter plötzlich hereinbrachen, haben wir gesehen, wie die Bauern erzittern, zusammenlaufen und Stoßgebete gen Himmel schicken. Aber wenn der Sturm sich gelegt hat, nimm sie mal beiseite und befrag sie ganz genau; dann wirst du sehen, dass ein jeder lediglich um sein bisschen Saat und sein
bisschen Gut gefürchtet hat. Sollte in unserer Stadt wegen eines Feuers sturmgeläutet werden, werden sogar die Lahmen und Blinden herbeieilen, um zu löschen. Weshalb, glaubst du wohl? Aus Patriotismus? Frag sie selbst: Der Grund liegt darin, dass das Verderben jeden einzelnen packt, die Ursache ist also ihre eigene Furcht.

 Ähnlich verhält es sich auch in dem von uns diskutierten Falle:

C 1.8.31 Die öffentlichen Übel beunruhigen die Menschen gewöhnlich nicht, weil der Untergang vieler droht, sondern weil unter diesen die einzelnen selbst gefährdet sind.


C 1.9.31  Kapitel 9

 

Die Selbsttäuschung wird noch etwas klarer dargelegt,

und nebenbei wird von unserer wahren Heimat gehandelt. 

Dabei geht es auch um die Bosheit der Menschen,

die Schadenfreude empfinden, 

wenn das Unglück sie nicht selbst betrifft.

 

 D

                                       aher soll die Sache ‘Selbstbetrug’ vor dir als Richter und

                                       deinem Gerichtsstand verhandelt werden – aber so, wie es

 in alter Zeit üblich war, als sich dazu der Vorhang vor der Richterbühne hob. Offenbar fürchtest du zurzeit den Krieg. Du hast Angst. Warum? Wegen Pest und Verderben, die mit dem Krieg einhergehen. Wen geht die Pest an? Im Moment jedenfalls trifft es noch andere, aber jederzeit kann es auch dich erwischen.

 Schau dir den eigentlichen Grund deines Schmerzes an (falls du die Wahrheit ohne Folter eingestehen willst). Wenn bei jemandem der Blitz einschlägt, erzittern auch die, die in der Nähe stehen. So geht es auch bei den großen Schicksalsschlägen, die scheinbar alle angehen: Der Tod ereilt wenige, die Furcht aber packt sie alle. Nimmst du diese, beseitigst du mit einem Mal den ganzen Schmerz.

Welt und Heimat Sieh, wenn in Afrika oder Indien ein Krieg tobt, lässt dich das kalt. Du bist ja außerhalb der Gefahrenzone. Herrscht aber Krieg in Belgien, dann jammerst und schreist du, schlägst dir gegen Stirn und Schenkel. Wenn du aber das öffentliche Übel an sich beweinst, wo bitte ist dann der Unterschied?

 ‘Aber das ist doch nicht meine Heimat’, wirst du entgegnen. Dummkopf, sind etwa die Menschen dort nicht vom selben Stamm, von derselben Saat wie du? Leben sie nicht unter demselben Himmelsgewölbe, auf demselben Erdball? Meinst du etwa, das bisschen, das die Berge hier umfassen, die Flüsse da begrenzen, sei unser Vaterland? Du irrst, der gesamte Erdkreis ist unsere Heimat, wo immer Menschen von göttlicher Abstammung leben. Trefflich antwortete einst Sokrates, als man ihn fragte, was für ein Landsmann er sei: ‘Ich bin ein Weltbürger’.[11] Ein Mensch von großherziger Gesinnung und Geistesstärke[12] schließt sich nicht in die engen Grenzen ein, die von der trügerischen Einbildung gesetzt werden, sondern betrachtet und erkennt die ganze Welt als die seine.

 Wir haben doch schon Narren gesehen und nur noch gelacht. Die band ihr Herr und Meister mit einem Knoten aus Stroh oder dünnem Faden. Und da standen sie nun, als wären sie in Eisen gelegt und tatsächlich gefesselt. Vergleichbar ist unsere Verrücktheit: Wir fesseln uns mit dem dünnen Band der Einbildung an einen bestimmten Flecken Erde.

 Aber ich will die harte Kost mal beiseite lassen, denn ich fürchte, du kannst sie noch nicht verdauen. Deshalb folgendes Beispiel:

C 1.9.32 Würde Gott dir zusichern, dass in diesem Krieg deine Felder unversehrt, Haus und Vermögen erhalten blieben, dich selbst würde er auf einen hohen Berg platzieren – umhüllt von einem homerischen Schleier. Würdest du auch dann noch leiden?

Schadenfreude Ich wage zwar nicht, solches von dir zu behaupten, aber manchen mag es da geben, der sogar noch Freude dabei empfinden wird und sich ergötzt an all dem Gemetzel und Morden. Du winkst ab? Du wunderst dich? Es gibt eine Boshaftigkeit tief im Menschlichen, so dass mancher, wie der alte Dichter sagt, Freude empfindet am Schaden der anderen.[13] Wir sind wie manches Obst, das vom Geschmack her süß und doch wieder sauer ist, wenn es um fremde Sorgen geht, während wir in Sicherheit sind. Stell jemanden an irgendein Ufer des Meeres. Der beobachtet da einen Schiffbruch. Er wird betroffen sein. Sicher. Aber er wird eher ein Prickeln als einen beißenden Schmerz empfinden. Denn er schaut ja fremde Abenteuer, ohne selbst in Gefahr zu sein. Und dann setz denselben mal in das von den Wogen gebeutelte Schiff. Dann wird er sicherlich einen anderen Schmerz erleiden. Bei allem, was wir tun und sagen, es ist immer dasselbe: Unser eigenes Unglück beweinen wir aufrichtig und von Herzen, das öffentliche aber nur zum Schein und weil’s so Brauch ist.

 Deshalb, mein Lipsius, leg doch endlich dieses theatralische Gebaren ab und pack deine Requisiten zusammen.[14] Wenn du dann all deinem Selbstbetrug abgeschworen hast, zeige uns, woran du wirklich leidest.“


C 1.10.32  Kapitel 10

 

Eine Klage meinerseits

über den freimütigen Tadel des Langius,

der aber zur Aufgabe des Philosophen gehört.

Des Weiteren ein Versuch, das oben Ausgeführte

mit der Verpflichtung zur Vaterlandsliebe zu widerlegen.

 

 F

                                       ür ein Vorgeplänkel erschien mir dies dann doch etwas zu

                                       heftig, und so fuhr ich dazwischen: „Was soll diese freizügi-

 ge Rede, ja diese Schärfe? Willst du mich schmähen oder kränken? Zu Recht könnte ich dich mit Euripides tadeln: ‘Füge mir Leidgeprüftem keinen neuen Schaden zu. Schon hinreichend werde ich durch das Unglück gepeinigt.’“

 Langius lächelte: „Du erwartest also von mir ein Zuckerplätzchen[15] oder einen Schluck Mulsum[16] Hast du nicht vor kurzem noch Eisen und Feuer gefordert? Und dies zu recht!

 Denn, Lipsius, du hörst hier einem Philosophen zu, keinem Flötenspieler. Ich habe mir vorgenommen, dich zu lehren, nicht dich zu verwöhnen.[17] Ich will dir von Nutzen, nicht zu Gefallen sein. Mir ist es lieber, du wirst puterrot vor Scham, als dass du lächelst. Ich ziehe es vor, du bereust, als dass du mir übermütig wirst. ‘Die Schule eines Philosophen, ihr Herren,’ rief einst Rufus, ‘ist wie die Werkstatt eines Arztes’.[18] Dorthin kommt man,

C 1.10.33 um geheilt zu werden, und nicht um der Lust zu frönen. Dieser Arzt streichelt und schmeichelt nie, sondern er dringt in die Tiefe vor, er sticht und kratzt, und mit dem scharfen Salz seiner Reden reinigt er den menschlichen Geist von allem Schmutz. Deshalb, Lipsius, denk auch in Zukunft nicht an Rosen, Sesam oder Mohn, sondern an Dornen und Dolche, an Wermut und Essig.“

 Darauf entgegnete ich wiederum: „Langius, mit Verlaub, aber du behandelst mich schlecht und boshaft. Du wirfst mich nicht wie ein guter Faustkämpfer mit einem regulären Schlag zu Boden, sondern stellst mir mit deiner Spitzfindigkeit ein Bein. Du nennst uns Heuchler und behauptest, wir beweinen unser Vaterland nicht um seiner selbst willen. Was mich anbetrifft, liegst du damit falsch. Wenn ich dir auch aufrichtigerweise zugestehe, dass mit der Heimat auch ich zum Teil selbst betroffen bin, so ist mein Schicksal für mich doch nicht allein ausschlaggebend. Ich trauere in erster Linie um das Vaterland, jawohl, ich trauere, und ich werde auch in Zukunft trauern, selbst wenn mir keinerlei Gefahr droht, das Vaterland aber in Bedrängnis ist. Und das mit gutem Recht. Denn das Vaterland hat mich aufgenommen, behütet und ernährt; so ist es nach dem Empfinden, das allen Völkern gemeinsam ist, die unantastbare und ehrwürdige Mutter. Aber du gibst mir die ganze Welt zur Heimat. Nun, wer streitet’s denn ab? Aber gib’s doch zu: Außer diesem großen und allumfassenden gibt es noch eine anderes Vaterland, das mir vertrauter und mehr zu eigen ist. Dem fühle ich mich durch ein verborgenes Band der Natur nun mal näher verbunden. Es sei denn, du denkst, es existiert keine Kraft, die uns anlockt und zum Heimatboden zieht. An den haben wir doch zuerst unseren Körper gepresst, darauf mit unseren Füßen gestanden. Seine Luft haben wir geatmet. Dort haben wir in unseren Windeln gewimmert, dort haben wir als Kinder gespielt, dort sind wir als Jugendliche ausgebildet und erzogen worden. Hier sind Himmel, Flüsse und Felder den Augen vertraut. Hier haben wir eine ganze Reihe von Verwandten, Freunden und Kameraden. Und so viele reizvolle Freuden, die wir anderswo auf Erden vergeblich suchen. Es handelt sich hierbei nicht um einen dünnen Faden der Einbildung, wie du gerne glauben machen möchtest, sondern um starke Fesseln der Natur. Wende dich doch einmal den anderen Lebewesen zu. Sieh dir die Raubtiere an; sie kennen und lieben ihr Lager; ebenso die Vögel ihre Nester. Selbst die Fische im unendlich großen Ozean leben mit Vorliebe an einem bestimmten Ort. Und die Menschen? Seien sie nun zivilisiert oder Barbaren – sie sind in jedem Fall ihrer Heimaterde verbunden. Und jeder aufrechte Mann wird nicht zögern, für das Vaterland sein Leben zu geben, und es ist für ihn unstreitig, in der Heimat sterben zu wollen. Deshalb, mein Langius, kann ich deiner neuen und harten Lehre bislang nicht folgen, und ich verstehe sie auch nicht. Vielmehr sehe ich mich durch Euripides bestätigt, wenn er sagt: ‘Es ist die Notwendigkeit, die alle Menschen ihr Vaterland lieben läßt.’“

 


C 1.11.34  Kapitel 11

 

Widerlegung des zweiten Affektes: 

der übersteigerten Liebe zum Vaterland.[19]

Diese wird fälschlicherweise Pietas genannt.[20]

Es wird ebenso gezeigt, woher dieser Affekt stammt 

und welche unsere eigentliche und wahre Heimat ist.

 

 L

                                       angius lächelte über meine Beschwerden: „Junger Mann“,

                                       sagte er, „deine Vaterlandsliebe verwundert mich doch sehr.

 Ich habe den Eindruck, der Bruder des Marc Anton muss um seinen Beinamen bangen.[21] Aber dennoch wird sich dein Affekt

Pseudo-Pietas ganz leicht von selbst offenbaren und zum Kampf antreten. Ihn anzugreifen und mit einem schnellen Streich niederzustrecken, hatte ich mir ja vorher schon vorgenommen. Vor allen Dingen aber reiße ich ihm die Verkleidung charakterlicher Vortrefflichkeit herunter, mit der er sich ungehörigerweise schmückt.

 Gewöhnlich wird also die Liebe zum Vaterland Pietas genannt. Ich gestehe, ich begreife das nicht, und ich dulde es auch nicht.

Pietas Denn was ist Pietas eigentlich? Ich weiß doch, dass sie zu den hervorragenden Charaktereigenschaften zählt. Von Hause aus ist sie nichts anderes als die rechtmäßige und gebührende Ehrbezeigung und Liebe zu Gott und Eltern. Mit welcher Berechtigung drängt sich das Vaterland in die Mitte zwischen diese beiden?[22] Deshalb, so sagen die Leute, weil gerade das Vaterland die heiligste und ehrwürdigste Mutter ist.

 Oh, ihr Dummköpfe, ihr vergeht euch nicht nur an der Vernunft, sondern auch an der Natur selbst. Das Vaterland ist also eine Mutter? Warum denn? Und auf welche Weise? Ich kann hier nichts Derartiges erkennen. Aber wenn du klarer siehst, Lipsius, dann erhelle meine Dunkelheit!

 Weil es mich aufgenommen hat? Offensichtlich hast du das doch vorhin ausdrücken wollen. Aber das tut doch jeder Gastwirt, jede Kneipe. Es hat mich gepflegt? Das taten einst mein Kindermädchen und meine Amme nicht weniger zärtlich. Es hat mich genährt? Das tun doch Vieh, Bäume und Felder jeden Tag. Und außer der Erde von den großen Elementen ebenso Himmel, Luft und Wasser. Gehe doch mal in ein anderes Land, und wo du auch bist, es wird dich ebenso ernähren.

 Was du da vorbringst, sind doch nur salbungsvolle und gefühlstriefende Worte, mit denen du nichts anderes zum Ausdruck

Opinio bringst als den pöbelhaften und nutzlosen Quatsch, der aus der Einbildung oder Meinung entsteht.

 Jedenfalls sind allein die unsere Eltern, die uns das Leben gegeben, uns erzogen und in besonderer Weise geliebt haben. Deren Gene, Blut und Fleisch tragen wir in uns. Gäbe es irgendeine Analogie zwischen Eltern und Vaterland, ja, dann kämpfte ich vergeblich gegen diese Bedeutung von Pietas.

 Aber große und gelehrte Männer haben doch allenthalben so gesprochen. Ja, einem solchen Einwand stimme ich zu. Aber die strebten nach Ruhm, nicht nach Wahrheit. Wenn du letzterer folgst, wirst du den heiligen und erhabenen Namen Pietas

Pietas allein der Beziehung zu Gott und, wenn es dir gefällt, den Eltern zugestehen.

C 1.11.35 Den Affekt der Vaterlandsliebe jedenfalls wirst du dann, auch wenn er von seinen Fehlern befreit ist, auf den ehrenvollen Titel Caritas[23] beschränken.

 Aber von Namen und Bezeichnungen soll es nun genug sein: Lass uns besser die Sache selbst betrachten. Die Liebe zum Vaterland hebe ich ja nicht gänzlich auf, sondern ich mäßige sie. So beschneide ich sie mit dem Skalpell der Weisheit. Denn wie ein Rebstock wuchert, wenn man ihn nicht ringsherum beschneidet, so schießen auch die menschlichen Triebe ins Kraut, wenn ihnen die Volksgunst Auftrieb verleiht.

 Doch auch ich, Lipsius, habe nicht aufgehört, Mensch und Bürger zu sein, und so bekenne ich gern, dass einem jeden von uns eine gewisse Zuneigung und Liebe zu unserer Heimat eigen ist. Aber weshalb das so ist, ist dir, wie ich sehe, kaum bekannt. Denn du möchtest gerne darin eine Naturanlage sehen. Tatsächlich aber handelt es sich dabei um etwas, das in der Gewöhnung und Konvention begründet ist.

Entstehen von  Als die Menschen nämlich aus ihrem rohen und einsamen Leben

Staaten vom Lande in die Städte zusammengedrängt wurden und anfingen, Häuser und Mauern zu errichten, Vereine[24] zu gründen und als Volk Gewalt auszuüben und abzuwehren, da ist notgedrungen unter ihnen eine Gemeinschaft entstanden, eine gemeinsame Regelung verschiedener Dinge. Gemeinsam hatten sie nun ein Land mit fest umrissenen Grenzen, Tempel, Marktplätze, eine Staatskasse und Gerichte. Was sie besonders verband, waren ihre Zeremonien, Rechte und Gesetze.

Eigentum Doch unsere Habgier begann diese Dinge so zu leben und zu pflegen, als wären sie unser Eigentum; und völlig falsch ist das ja nicht. Denn jeder einzelne Bürger hat ein Recht auf dieses Gemeingut, und es unterscheidet sich von Privatbesitz nur dadurch, dass es nicht nur einem einzigen gehört. Dieser beschriebene Zusammenschluss stellt nun Form und Gestalt eines neuen Zustands dar, den wir Staat oder genauer Vaterland nennen.

Gesetz und  Als die Menschen erkannten, wie viel Nutzen jeder einzelne für

Gewohnheitsrecht sein Wohlergehen aus dieser Vereinigung zog, wurden auch Gesetze erlassen, die die Gemeinschaft stützen und verteidigen sollten. In jedem Fall aber wurde von den Vorfahren ein mündliches Gewohnheitsrecht überliefert, das den geschriebenen Gesetzen an Bedeutung gleichkommt. Daher freuen wir uns über das Glück des Vaterlandes und betrauern sein Unglück.

Gemeinwohl Denn in der Tat, wenn es ihm gut geht, ist auch unser ganzer Besitzstand gesichert; geht es zugrunde, wird er vernichtet.

 Von daher stammt die Liebe zum Vaterland, die unsere Vorfahren um des Gemeinwohls[25] willen gemehrt haben, indem sie durch allerlei Worte und Werke die Würde des Vaterlandes förderten. (Zum Wohl der Allgemeinheit zieht uns allerdings auch eine geheimnisvolle Kraft der göttlichen Vorsehung.)[26]

 Besagter Affekt stammt also aus der menschlichen Organisation der Gesellschaft – das ist jedenfalls meine Beurteilung der Sachlage.

 Sollte er aber natürlichen Ursprungs sein, wie du dachtest, warum ist er dann nicht bei allen gleich und von derselben Stärke? Warum lieben und schätzen die Edlen und Reichen das Vaterland mehr, dagegen die einfachen Leute und Mittellosen weniger? Du siehst doch, dass die sich viel mehr um ihre eigenen Angelegen-

C 1.11.36 heiten kümmern und dabei die öffentlichen Belange außer Acht lassen. Aber ein derart unterschiedliches Verhalten verschiedener Menschen gibt es bei keinem Affekt, der aus dem ungestümen Anstoß der Natur stammt.

 Schließlich – weshalb hat oft ein ganz nichtiger Anlass die Vaterlandsliebe beeinträchtigt oder gar ganz ausgelöscht?

Auswanderung Schau, den einen hat der Zorn, einen anderen die Liebe, wieder andere der Ehrgeiz aus der Heimat weggelockt; und wie viele verlockt heute Gott Mammon? Wie viele Italiener haben die Königin der Länder, Italien, verlassen und in Frankreich, Deutschland, ja sogar in Russland gesiedelt – einzig und allein, um Geld zu verdienen? Wie viel tausend Spanier werden Jahr für Jahr von Habgier und Ehrgeiz in fernste Länder der Neuen Welt gezogen?[27] Das ist doch wohl fürwahr ein schlagendes Argument dafür, dass dies Band der Vaterlandsliebe rein äußerlich und eingebildet ist, wenn eine einzige Begierde es so blindlings löst und zerreißt.

Heimaterde Aber du irrst auch sehr in der Beschreibung dessen, was das Vaterland eigentlich ist, Lipsius. Denn du beschränkst es ja auf die Heimaterde, auf der wir stehen, an die wir unsere Brust schmiegen; und was du mir sonst noch an Wortgeklingel daherredest. Von daher willst du irrigerweise die inneren Ursachen besagter Liebe suchen. Wenn aber nur unser Geburtsort den Namen Vaterland verdient, wird meines lediglich Brüssel, deines Overijse sein. Irgendein anderer hat nur eine Hütte, ja viele werden nicht mal einen Schuppen ihr eigen nennen können, sondern erblickten im Wald auf nacktem Boden das Licht der Welt. Soll ich nur Haus und Hof als mein Vaterland lieben und verteidigen?

 Du siehst, wie albern das ist. Und wie glücklich nach deiner Definition die sein müssten, die in Wald und Flur leben. Denn ihre Heimaterde steht immer in Blüte und fast außerhalb jeder Gefahr von Unglück und Untergang.

 Nein, das ist fürwahr nicht unser Vaterland Vielmehr ist es eine feste Größe, vergleichbar mit einem Staatsschiff, das unter einem einzigen König oder Gesetz segelt. Du willst, dass seine Bürger es mit Recht lieben – ich gestehe es dir zu; dass sie es verteidigen – einverstanden; dass sie seinetwegen den Tod auf sich nehmen – auch das lasse ich geschehen.

 Aber ich dulde nicht, dass einer deshalb in Trauer darniederliegt und lamentiert. ‘Es zeugt von Liebe und ist ehrenvoll, fürs Vaterland sein Leben zu geben,’ sagte Horaz von Venusia unter großem Beifall der Zuschauer.[28] Aber er sagte sterben, nicht heulen. Denn genauso müssen wir gute Bürger sein, wie wir tapfere Männer sind. Wir entblößen uns dieser Tugend aber, wenn wir uns dem Heulen und Klagen der Kinder und Weiber überlassen.

Das Vaterland der Zum guten Schluss, Lipsius, will ich dir ein tiefes Geheimnis

Weisen anvertrauen. Wenn du dir den Menschen in seiner Ganzheit

C 1.11.37 anschaust, erkennst du, dass alle diese Vaterländer falsch und nichtig sind. Vielleicht kann man irgendeines dem Bereich des Körperlichen und Irdischen zurechen, keines aber dem Geistigen und Seelischen. Die Seele ist nämlich aus ihrer himmlischen Wohnung herabstürzt und betrachtet die ganze Erde als einen Kerker und ein Gefängnis.[29] Der Himmel ist ihre wahrhaftige und wirkliche Heimat. Dem wollen wir uns zu nähern suchen, damit wir, wenn uns dein Dummkopf fragt, ob uns nichts am Vaterland gelegen sei, von Herzen mit Anaxagoras antworten können: ‘Das ist mein Vaterland’; und mit Finger und Geist wollen wir dann gen Himmel zeigen.“[30]


C 1.12.37  Kapitel 12

 

Der dritte Affekt, das Mitleid (Miseratio),

wird ins rechte Licht gerückt.

Dieses zählt zu den Lastern und wird der Klarheit wegen 

von der Barmherzigkeit (Misericordia) unterschieden.

Wie und wieweit man sich letzterer befleißigen soll,

wird ebenfalls ausgeführt.[31]

 

 M

                                        ir schien, als habe Langius mit seinen Ausführungen einen

                                        Nebelschleier, der meinen Geist umhüllte, vertrieben. So

 sagte ich zu ihm: „Mit Ermahnung und Belehrung bringst du mich ein weites Stück voran, guter Alter. Soweit sich der Affekt auf Heimat und Staat bezieht, glaube ich, ihn beherrschen zu können; aber insofern es um das Leid der Menschen selbst geht, bin ich noch nicht so weit, Stärke zeigen zu können.

Mitleid Denn wie sollte mich das Unglück meines Vaterlandes, das doch

(Miseratio) meine Mitbürger und Landsleute trifft, nicht berühren und quälen? Sie werden doch von den Fluten der Drangsal hin und her geworfen oder gehen an so manchen Schicksalsschlägen elendig zugrunde.“

 Langius griff die Bemerkung auf und entgegnete: „Aber das ist eigentlich kein richtiger Schmerz, Lipsius, sondern bloßes Mitleid, das der Weise und im Geist Starke weit von sich weisen muss. Denn ihm kommt nichts mehr zugute als Festigkeit und Kraft des Geistes. Diese aber können gar nicht zur Wirkung gelangen, wenn ihn nicht nur die Trauer über sein eigenes, sondern auch über fremdes Schicksal grämt und in seiner Handlungsfähigkeit einschränkt.“

 Hier unterbrach ich Langius’ Rede und sprach: „Was sollen diese stoischen Spitzfindigkeiten? Du verbietest mir, Mitleid mit einem anderen zu haben? Das ist doch eine gute Charaktereigenschaft, und sie wird auch von aufrichtigen Menschen, aber mit Sicherheit doch von uns dafür gehalten, die wir in der Gnade der wahren Religion und des wahren Glaubens stehen.“[32]

 Langius entgegnete darauf mit Bestimmtheit: „Jawohl, ich verbiete es! Und es wird mir kein rechtschaffener Mensch übel nehmen, wenn ich diese Geisteskrankheit beseitige. Denn es ist tatsächlich eine Krankheit. Und der, der einen anderen bemitleidet, ist nicht weit davon entfernt, selbst bemitleidenswert zu sein. Schlechte und kranke Augen beginnen beim Anblick eines anderen, dessen Augen triefen, bekanntlich ebenfalls zu tränen. So ist es auch Ausdruck eines schwachen Geistes, wenn einer – im Angesicht des Leids – selbst vor Leid vergeht.

Def. Mitleid So soll das Mitleid definiert sein: als Mangelerscheinung eines

C 1.12.38 schwachen und minderwertigen Geistes, der beim Anblick fremden Übels zusammenbricht.

 Was denkst du nun? Sind wir etwa verhärtet und gefühllos, wenn wir es ablehnen, von fremdem Leid angerührt oder gebeugt zu werden? Keineswegs, ja Rührung ist sogar erwünscht; aber nur, wenn sie zum Helfen rührt und nicht zum Heulen: Die Barm-

Barmherzigkeit herzigkeit gestehe ich dir zu, nicht das Mitleid. Sie näher zu bestimmen ist jetzt angebracht, ebenso, aus Gründen des Unterrichts, in der Terminologie ein wenig unsere stoische Säulenhalle zu verlassen.[33]

Definition So nenne ich die Barmherzigkeit die Hinwendung des Geistes zur Linderung fremder Not und Trauer. Das, Lipsius, ist die Vorzüglichkeit eines guten Charakters, die du wie durch einen Schleier wahrnimmst und an deren Stelle du der Fiktion des Mitleids erlegen bist.

 Zwar ist es menschlich, kummervoll Klage zu führen. Sei’s drum. Es ist dennoch nicht richtig! Du glaubst doch nicht etwa, dass irgendeine Tugend in der Schwäche und Verweichlichung des Geistes liegt, wenn du stöhnst und seufzt und Gestammel und Geschluchze[34] mit dem Leidenden austauschst? Da gingst du weit in die Irre.

 Andernfalls kann ich dir einige habsüchtige alte Weiber und knauserige Euclionen[35] bringen; aus deren Augen hättest du schneller tausend Tränen gedrückt, als dass du ihnen einen Pfennig aus der Tasche[36] lockst.

Der Misericors Der Barmherzige, wie er unserer Idealvorstellung entspricht, wird sich jedenfalls nicht in Mitleid ergehen, sondern weit mehr zu Wege bringen, als es dem Mitleidigen je möglich ist.

 Der Misericors sieht das Unglück der anderen zwar mit menschlichen Augen, aber dennoch mit klarem Blick. Er wird ihnen mit aufmunterndem Lächeln Mut zusprechen, aber doch nicht mit               einer verzagten Trauermiene. Er wird tapfer wie ein aufrechter Mann Trost spenden und freimütig Hilfe leisten. Er wird als Handelnder mehr Gutes tun als ein Zuschauer mit Schwätzen. Er wird den Bedürftigen und Leidenden eher die Hand reichen als Worte. Doch dies alles wird er mit Vorsicht und Weitsicht verrichten, damit er sich nicht durch den Kontakt mit der Krankheit selbst infiziert, damit er sich nicht, wie es von Gladiatoren heißt, durch die Brust des anderen selbst töte.

Weisheit Was ist daran unmenschlich und hart? So verhält es sich mit allem, was der Weisheit entspricht: Wenn man von ferne darauf schaut, erscheint es streng und finster, geht man aber etwas näher heran, erkennt man, dass es sanft und milde ist. Lieblicher und freundlicher kann selbst Venus, die Göttin der Liebe, nicht sein.

 Aber damit soll es genug sein von diesen drei Affekten. Wenn ich sie dir zum Teil wenigstens verscheucht habe, wird mir das für den übrigen Kampf von großem Nutzen sein.

 


[1] „… stirpes adfectuum excidendae ab radice sunt.“

[2] Wörtlicher: „… meine weitere Rede aufgebaut sein könnte.“

[3] Die sich hier anschließende differenzierende Betrachtung macht das 7. Kapitel zu einem von Grund auf stoischen. Vgl. hierzu auch Weisheit S. 62ff.

[4] „Cupiditas et Gaudium, Metus et Dolor“, s. Weisheit S. 58f.

[5] „quae enim defensio?“

[6] „Pietas … et Miseratio“. Viritius übersetzt hier „pietas“ noch mit Frömmigkeit. Die religiöse Eingrenzung ist an dieser Stelle allerdings irreführend und Lipsius’ Intention entgegengesetzt. S. Weisheit S. 69ff. (und 76ff. zur „pietas“ in den POLITICA, in letzteren ist „pietas“ ganz auf die Religion beschränkt).

[7] „Belgica“. Lipsius gilt als der erste, der für seinen Teil der Niederlande den Begriff „Belgien“ eingeführt hat. Vgl. Raymon Denayer, Vorwort zu J. Lipsius, De Vita Sua, S. 2.

[8] Vgl. Cic. Tus. 3.44.

[9] „discidium … linguae cordis.“

[10] S. Weisheit S. 66f. und Anm. 4.

[11] „… Socrates interroganti, cuiatem se ferret? Mundanum respondit.“ Zu Kosmopolis und Sokrates s. Weisheit S. 181ff. und Anm. 22.

[12] „Magnus enim erectusque animus“. Dahinter stehen die stoischen Begriffe „magnanimitas“ und im folgenden „kosmopolis“.

[13] Horaz, serm. II 3.72, s. Weisheit S. 67, Anm. 6.

[14] „aulaeum hoc scaenicum … remove … siparium complica“.

[15] „Crustulum“ wird im Mittellatein zu „Brotkruste“. So übersetzt Viritius 26v. „Butterbrodt“.

[16] „Honigwein“. Vir. 26v. „ein Trunck Meht“.

[17] „Ducere“ hier im Sinne von „ans Händchen nehmen“, „verhätscheln“.

[18] Vgl. Epiktet, Diss. 3.23.30. S. Weisheit, S. 179f.

[19] „adfectus nimii amoris in patriam“.

[20] Pietas wird zumeist mit „Frömmigkeit“ übersetzt. Doch hat sie im Laufe der Sprachgeschichte auch ein größeres Bedeutungsspektrum und benennt Charaktereigenschaften wie Tapferkeit u.a. Um Verwirrung durch den uns geläufigen o.g. religiösen Begriff zu vermeiden, wird hier Pietas als lateinischer Ausdruck beibehalten, wenn die deutsche Bedeutung eindeutig ist. Zur Problematik der Pietas s. Weisheit, S. 69ff. und bes. S. 70, Anm. 11.

[21] Vir. 29v., n.3 „Pii“.

[22] Eine Glosse erklärt hierzu: „Denn es gibt dann drei Abstufungen der Pietas: gegenüber Gott, dem Vaterland und den Eltern.“

[23] „caritas“ – Hochachtung, Liebe – soll hier ebenfalls als Begriff unübersetzt bleiben, um von „pietas/amor“ in der Bedeutung – Liebe – unterschieden zu werden.

[24] „coetus“, Vir. „Zunfften“.

[25] „bonum publicum“; vgl. später Rousseau „bien public“.

[26] Diese Parenthese ist im Lateinischen hinter „bonum publicum“ in den Satz integriert und der syntaktischen Klarheit wegen hier nachgeschoben. Lipsius’ Aussage mag verwirren und erscheint an dieser Stelle überflüssig. Zumal sie den vorhergehenden Ausführungen von der Entstehung der Staaten als Menschenwerk zu widersprechen scheint. Zur Providentia (Vorsehung) s. u. Kapitel 13ff.

[27] „in sepositas et sub alio sole terras“. Schon Viritius verweist in einer Randnotiz (Vir. 32v, n.!) auf die „Neue Welt“.

[28] Horaz, carm. 3.2.13. Vgl. Weisheit S. 75 u. bes. Anm. 23.

[29] S. Weisheit, S. 72f.

[30] S. Weisheit, S. 73, Anm. 17, Teil 2

[31] Zur Behandlung dieser Problematik s. Weisheit S. 79ff.

[32] Hier setzt Lipsius die Pietas einmal in den direkten Zusammenhang zur christlichen Religion: „certe apud nos, qui vera religione imbuti et pietate.“

Vgl. oben Kapitel 11 und Weisheit S. 76ff. zur Pietas in der POLITICA des Lipsius.

[33] Zur unterschiedlichen Terminologie von Miseratio und Misericordia bei Stoa und Lipsius s. Weisheit S. 79f.

[34] „verba fracta et tertiata“.

[35] „Eucliones“, Viritius „Drückepfennige“.

[36] „unum e bulga nummum“.

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