– 1 –
C 1.18.49 Kapitel 18
Kurze Darstellung der ersten drei Schicksalsbegriffe
sowie deren Definition bzw. Beschreibung.
Abschließend eine kurze Rechtfertigung der Stoiker.
D
as Fatum Mathematicum[1] der Astrologen fesselt alle Hand-
lungen und knüpft alle Ereignisse unverbrüchlich an die
Gewalt und Stellung der Gestirne.
Fatum Mathematicum Als Begründer dieser Lehre gelten die Chaldäer und Sterndeuter. Unter den Philosophen ist der erhabene Mercurius[2] hierfür ein bedeutender Gewährsmann. Er unterscheidet feinsinnig und durchaus treffend Vorsehung, Notwendigkeit und Schicksal: ‘Die Vorsehung ist die unabhängige, in sich selbst vollendete Vernunft Gottes. Sie hat zwei natürliche Kräfte: Notwendigkeit und Schicksal. Beide dienen der Vorsehung. Dem Schicksal aber gehorchen die Sterne. Denn niemand kann sich der Macht des Schicksals entziehen, wie auch niemand der Strenge der Sterne entkommen wird. Die Sterne sind das Werkzeug des Schicksals, dem gemäß sie alles in der Natur und bei den Menschen zustande bringen.’ Selbst heutzutage segeln in diesem Schiff voller Narren nicht nur die gewöhnlichen Sterndeuter oder Wahrsager, sondern (man wagt es kaum zu sagen) manch einer aus der Schar der Theologen.
Fatum Naturale Das Fatum Naturale[3] nenne ich die geordnete Abfolge der natürlichen Ursachen, die (wenn sie nicht gehindert werden) durch ihre wesensmäßige Kraft eine bestimmte Wirkung hervorbringen. Diese Auffassung vertritt u.a. Aristoteles, wenn man Alexander Aphrodisias, seinem getreuen Kommentator, folgen mag. Ebenso denkt Theophrast, der deutlich zum Ausdruck bringt: ‘Das Fatum ist das immanente Wesen eines jeden Dinges.’
Demzufolge geschieht durch das Schicksal, dass ein Mensch einen anderen zeugt. Wenn einer aufgrund innerer Ursachen ohne Fremdeinwirkung stirbt, geschieht auch dies durch das Schicksal. Und umgekehrt: Sollte ein Mensch einen Drachen hervorbringen oder ein anderes Monstrum, hat dies nichts mit dem Fatum zu tun. Eben so wenig, wenn jemand durch Schwert oder Feuer den Tod findet.
Diese Lehre ist keineswegs sündhaft zu nennen, da sie nicht einmal an die Macht des Schicksals rührt. Ist es nicht so, dass der, der nicht aufsteigt, auch nicht abstürzen kann? So verhält es sich mit Aristoteles fast immer, wenn er über göttliche Dinge schreibt. Das Büchlein ‘Über den Kosmos’ möchte ich hiervon ausnehmen, da es mir ganz prächtig zu sein scheint, geradezu von einer himmlischen Ausdruckskraft.[4]
C 1.18.50 Und da lese ich doch bei einem griechischen Autor,[5] Aristoteles sei der Meinung gewesen, ‘das Schicksal sei überhaupt keine Ursache, sondern irgendeine Art von Ursache, die lediglich den Verfügungen der Notwendigkeit nachgeordnet ist.’ Was ist das nur für ein Philosoph, der es wagt, Glück und Zufall[6] unter die Ursachen zu zählen, aber nicht das Fatum?
Aber diesen Standpunkt will ich nun verlassen und zu meinen
Fatum Violentum Stoikern kommen, die die Begründer einer rigorosen Schicksalsauffassung sind.[7] (Ich mache kein Hehl daraus, dass mir diese Schule sehr am Herzen liegt und meine ganze Wertschätzung genießt.) Hiernach definiere ich das Schicksal mit Seneca als ‘Notwendigkeit aller menschlichen Dinge und Handlungen, die keine Kraft oder Gewalt aufheben kann.’[8] Oder mit Chrysipp als ‘eine geistige Kraft, die alles und jedes ordnet.’[9]
Diese Definitionen, wenn man sie mit Sinn und Verstand deutet, weichen gar nicht so sehr vom rechten und wahren Weg ab. Und dies gälte vielleicht für die ganze stoische Lehre, hätte ihr nicht schon frühzeitig der nach unten gereckte Daumen des Pöbels den Garaus gemacht.
C 1.18.50 Zwei Verfehlungen wirft man den Stoikern vor: dass sie Gott den verschlungenen Pfaden des Schicksals unterwerfen und ebenso die inneren Handlungen unserer freien Willensentscheidung.
Nun will ich sie nicht völlig von diesen beiden Vorwürfen freisprechen, denn aus ihren Schriften, von denen nur Fragmente auf uns gekommen sind, mag man durchaus solches zutage fördern. Es gibt darin aber auch viel Vernünftiges. Seneca, fürwahr eine nicht unbedeutende Säule in dieser Halle,[10] scheint am ehesten Anstoß zu erregen, und das in einem Buch, in dem er es am wenigsten dürfte – nämlich ‘De Providentia’, Über die Vorsehung.
Dort schreibt er: ‘Ein und dieselbe Notwendigkeit bindet auch die Götter. Menschliche und göttliche Dinge verlaufen gleichermaßen auf einer unwiderruflichen Bahn. Der Begründer und Lenker aller Dinge hat zwar die Schicksale festgeschrieben, aber er folgt ihnen auch selbst. Einmal hat er befohlen, immer leistet er Gehorsam.’[11]
Der freie Wille Jene unaufhörliche Kette und Verbindung der Ursachen, wodurch alles und jedes verknüpft ist, scheint ganz offensichtlich dem freien Willen des Menschen Gewalt anzutun. Aber die wahrhaften und echten Stoiker haben solchen Unsinn niemals offen ausgesprochen. Sollte ihnen etwa in der Hitze des Gefechts – schriftlich oder in der Auseinandersetzung einer Diskussion – solches entfahren sein, so wirst du erkennen, dass es sich eher um ein Problem von Worten und Ausdrücken handelt als um einen Irrtum in der Sache.
Chrysipp selbst (der doch als erster diese würdevolle Schule durch spitzfindige Untersuchungen in Verruf gebracht und geschwächt hat) stellt bei Aulus Gellius die These von der Beeinträchtigung der Freiheit richtig.[12] Und unser Seneca unterwirft keineswegs Gott dem Fatum (schließlich ist er nicht verrückt), sondern, in seiner den Alten eigenen Art zu reden, einen Gott dem anderen. Denn diejenigen der antiken Denker, die der Wahrheit am nächsten kamen, sprachen, wenn sie ein und dasselbe meinten, mal von Schicksal, dann von der Vorsehung, ein andermal von Gott.
C 1.18.51 Daher fügt Zenon, wenn er das Schicksal als ‘bewegende Kraft
Zenon des Stoffes’ definiert, hinzu: ‘Diese kann man aber auch ohne Unterschied Vorsehung und Natur nennen.’[13] In demselben
Chrysipp Sinne nennt Chrysipp es an anderem Ort ‘die ewige Vernunft
Panaitios oder Vorsehung’.[14] Der Stoiker Panaitios fügt an: ’Gott zeigt sich im Fatum.’[15] Dasselbe denkt auch Seneca, wenn er deutlich sagt:
Seneca ‘Sooft du auch willst, ist es dir erlaubt, den Urheber der Dinge und Wesenheiten[16] mit anderen Namen anzurufen: Du magst ihn mit Recht den vollkommenen und allgewaltigen Jupiter nennen, den Donnernden, den Erhalter und Beschützer. Entgegen der Überlieferung der Historiker ist er nicht der Schutz und Halt, weil die Schlachtreihe der flüchtenden Römer nach einem Gelübde oder Opfer zum Stehen kam, sondern weil alles steht und besteht auf Grund seiner Güte. Wenn du eben diesen Fatum nennst, liegst du bestimmt nicht falsch. Denn, da das Schicksal nichts anderes ist als eine verwobene Ursachenkette, ist er die erste aller Ursachen, von der die übrigen abhängen.’[17]
Diese Worte sind derart von Ehrfurcht geprägt, dass nicht einmal die Verleumdung selbst hierüber üble Nachrede führen könnte.
Aristoteles In diesem Punkt weicht auch der große Denker Aristoteles nicht weit von den Stoikern ab, wenn er an den großen König Alexander schreibt:[18] ‘Nach meiner Ansicht kann die Notwendigkeit nicht anders genannt werden als Gott selbst, der eine unverrückbare Wesenheit ist, oder Schicksal, wodurch er alles aneinanderreiht und ungehindert voranbringt.’
Diese Lehren mögen zwar zuweilen etwas unbekümmert daherkommen, doch sind sie deshalb keineswegs gottlos. Für den geneigten Leser sind sie bei richtiger Auslegung gar nicht weit von unserem wahrhaftigen Schicksalsbegriff entfernt. Dieses Lob
Stoiker mache ich mit allem Ernst den Stoikern; es gibt keine andere philosophische Schule, die der Majestät und Vorsehung Gottes gerechter geworden wäre. Keine andere hat die Menschen in stärkerem Maße zu himmlischen und unvergänglichen Sphären gezogen. Sollten sie auf der Bahn des Schicksals mal ins Straucheln geraten sein, so geschah dies nur aus lobenswertem und ehrlichem Bemühen, die blinden Sterblichen vor der blinden Göttin, Fortuna, zu retten. Sie haben nicht nur ihr göttliches Wirken, sondern sogar ihren Namen verworfen.[19]
C 1.19.52 Kapitel 19
Darlegung des vierten und wahrhaftigen Schicksalsbegriffes.[20]
Kurze Ausführungen über den Begriff selbst.
Dann die genaue Definition und Differenzierung von der Vorsehung.
Ü
ber antike Auffassungen und Meinungsverschiedenheiten
habe ich nun genug gehandelt. Denn warum soll ich noch
begierig und feinsinnig die Dreißigerschaft im Hades erforschen wollen?
Der Begriff Fatum Mit dem wahrhaftigen Fatum werde ich zur Genüge zu tun haben: Dies will ich nun vorstellen und erklären. Schicksal oder Fatum nenne ich hier also den immerwährenden Beschluss der Vorsehung. Diesen kann man eben so wenig von den Dingen wegnehmen wie die Vorsehung selbst.
Die Bezeichnung aber soll mir keiner ins Lächerliche ziehen oder auf die leichte Schulter nehmen, denn ich versichere mit Nachdruck, es gibt in der ganzen lateinischen Sprache kein anderes Wort, das der hier anstehenden Sache angemessen ist. Haben die Alten seinen rechten Gebrauch nicht verstanden? Dann wollen wir es richtig stellen! Und wenn wir den Ausdruck aus dem finsteren Kerker der Stoiker herausgeführt haben, werden wir ihn ans klarere Tageslicht halten.
Etymologie Das lateinische Wort für Schicksal –Fatum – kommt mit Sicherheit von fari oder fandus, was ursprünglich heißt: sprechen, sagen verkünden.[21] Somit bedeutet es eigentlich nichts anderes als Spruch und Weisung Gottes. Das ist genau, was wir hier suchen.
Definition Denn ich definiere das wahre und tatsächliche Fatum mit dem berühmten Pico della Mirandola als ‘die vom göttlichen Ratschluss abhängige Kette und Ordnung der Ursachen.’[22] Oder mit unseren Worten, etwas dunkler, aber feinsiniger als: ‘den unabänderlichen Beschluss der Vorsehung, der den beweglichen Dingen anhaftet und jedem einzelnen seine Ordnung, seinen Platz und seine Zeit mit dauerhafter Gültigkeit zuteilt.’[23]
Ich habe ganz bewusst das Schicksal einen Beschluss der Vorsehung genannt, weil ich mit den heutigen Theologen (man gestehe mir hier zu, der Wahrheit in Freiheit nachzuforschen) nicht übereinstimme, die Fatum und Providentia der Sache und dem Begriffe nach miteinander vermischen.
Ich weiß, wie schwer und geradezu verwegen es ist, jenes Wesen, das die Wirklichkeit und auch das Himmlische übersteigt (ich meine natürlich Gott), mit bestimmten Worten erfassen und eingrenzen zu wollen. Dennoch beharre ich, sofern es in der
Auffassungskraft des menschlichen Geistes liegt, darauf, dass die Vorsehung im eigentlichen Sinn das eine, unser Schicksal etwas
Providentia im anderes ist. Denn die Vorsehung verstehe ich nicht anders als
Unterschied zum ‘eine Macht und Gewalt Gottes, durch die er alles sieht, weiß
Fatum und lenkt.’[24] Ich denke dabei an eine allumfassende, ungeteilte und in sich ganz und gar feste Kraft, in der – mit Lucrez gesprochen – alles ‘in eins verbunden ist’.
Das Fatum dagegen scheint doch mehr zu den Dingen selbst herab zusteigen und auch in ihnen betrachtet zu werden. Es ist eine
C 1.19.53 Einteilung und Darstellung der allgemeinen Vorsehung, die sich von dieser getrennt und in einzelnen Teilbereichen vollzieht. Daher ist die Vorsehung in Gott und ihm allein zugeteilt, das Schicksal ist in den Dingen und wird ihnen zugeschrieben.
Ich scheine dir Probleme zu bereiten und dich zu verwirren, vielleicht denkst du auch, ich betreibe Erbsenzählerei.[25] Und doch, Lipsius, entnehme ich diese Art zu reden geradezu der Alltags- und Umgangssprache. Da hört man doch nichts anderes, wenn es heißt: ‘Dieses oder jenes ist mein Schicksal – zum Guten oder Schlechten. Das ist das Schicksal jenes Reiches oder jener Stadt.’ Aber niemand spricht so von der Vorsehung. Niemand, behaupte ich, rechnet sie den Dingen selbst zu, außer er macht sich der Gottlosigkeit schuldig und gibt sich somit der Lächerlichkeit preis.
Ich sage also mit Fug und Recht, dass jene in Gott ist, dieses zwar von Gott kommt, aber von den Dingen her verstanden werden muss. Ich gehe sogar noch weiter: Selbst wenn man Vorsehung und Schicksal nicht als tatsächlich getrennt voneinander betrachtet – sondern als zwei Gesichtspunkte desselben Geschehens – scheint die Providentia immer noch vorzüglicher, in gewissem Sinne zeitlich früher als das Fatum zu sein. Wir reihen uns damit in die allgemeine Lehrmeinung der philosophischen Schulen ein, dass auch die Sonne Ursprung des Lichtes ist, die Ewigkeit die Zeit überragt und die Einsichtsfähigkeit vor der reinen Verstandestätigkeit liegt.
Aber ich will dieses trockene und unerfreuliche Thema nicht allzu sehr auswalzen, obwohl es noch keineswegs abgenutzt ist. Doch du siehst daraus, dass der Grund für eine Differenzierung von Vorsehung und Schicksal gerechtfertigt ist, ebenso wie die Beibehaltung der Begriffe – ungeachtet der modernen Theologenschaft. Denn ich stehe in vollem Einklang mit den Kirchenvätern, wenn ich das Wort Fatum in vernünftiger Weise und aufrichtig verwende.[26]
Erläuterung der Ich möchte nun zur Erläuterung meiner Definition zurückkehren:
Definition Ich nannte das Fatum einen den Dingen anhaftenden Beschluss, um zu zeigen, dass man es da untersuchen muss, wohin es gelangt und nicht da, woher es kommt.
Ich fügte hinzu: den beweglichen Dingen. Dies sollte zeigen, dass das Fatum selbst zwar unverrückbar ist, aber dennoch den Dingen ihre innewohnende Bewegungsmöglichkeit und ihr eigentümliches Wesen nicht raubt. Es führt sie vielmehr sanft und ohne jede Gewalt, entsprechend den von Gott eingepflanzten Wesensmerkmalen und Voraussetzungen.
Sind diese Ursachen (gemeint sind natürlich die Gott nachgeordneten Ursachen) notwendig, so sind auch die Abläufe der Notwendigkeit unterworfen, sind die Ursachen natürliche, so sind es auch die Vorgänge, unterliegen sie dem freien Willen, sind auch die Handlungen frei, und sind sie zufällig, so sind es auch die Ereignisse.[27] In Hinsicht auf die Dinge wendet das Fatum daher weder Gewalt noch Zwang an, sondern es führt und lenkt ein jedes entsprechend seinen angeborenen Vorgaben: entweder aktiv zu handeln oder passiv zu dulden. Wenn du dich aber auf seinen Ursprung zurück beziehst – nämlich die Vorsehung und damit Gott – musst du fest und furchtlos eingestehen, dass alles, was aufgrund des Schicksals geschieht, sich mit Notwendigkeit vollzieht. Schließlich habe ich meiner Definition einen Zusatz von Ordnung, Ort und Zeit hinzugefügt. Damit sollte bekräftigt werden, was ich schon vorher ausgeführt hatte: In der Vorsehung sind alle Dinge mit einem Mal als Ganzes vereinigt gesehen, das Fatum dagegen ist durch die Aufteilung das Schicksal der Einzeldinge und -wesen. Unter Ordnung verstehe ich eine Ursachenkette, die
C 1.19.54 das Fatum festlegt nach Ort und Zeit. Sie ist jene wundersame und nie völlig zu deutende Kraft, durch die alle Ereignisse nach bestimmten Orten und Zeitpunkten festgelegt sind.
Ist es Schicksal, dass Tarquinius aus seinem Königreich verjagt wird? Dann wird es geschehen! Aber der Ehebruch muss vorangehen.
Du erkennst die Ordnung.
Es ist Caesar bestimmt, ermordet zu werden? Nun denn! Aber es muss im Senat geschehen; und bei der Statue des Pompeius.
Da siehst du den Ort.
Das Schicksal Domitans ist es, von seinen eigenen Leuten getötet zu werden? So wird er getötet! Und genau um dieselbe Stunde, die er vergeblich zu meiden suchte: die fünfte.
Da siehst du die Zeit.
C 1.20.54 Kapitel 20
Vier Argumente zur Unterscheidung
des wahren Schicksalsbegriffes von dem der Stoiker.[28]
Dabei wird gezeigt, warum das Fatum den freien Willen nicht beeinträchtigt;
ebenso, dass Gott weder Helfershelfer noch gar Urheber des Bösen ist.
H
ast du dies nun zur Genüge begriffen, junger Freund? Oder
muss ich dir eine noch hellere Fackel anzünden?“
„Allerdings, Langius, ein viel helleres Licht benötige ich, oder du lässt mich auf ewig in dunkler Nacht. Denn was sind das für Haarspaltereien in deinen Unterscheidungen? Was für arglistige Fallstricke in deinen Fragestellungen? Glaube mir, ich fürchtete schon einen Hinterhalt. Jedes deiner hochgeistigen Worte kam mir wie ein Feind vor.“
Langius lächelte mir zu und sprach: „Sei guten Mutes, hier ist nirgendwo ein Hannibal; du bist in Sicherheit und nicht in einen Hinterhalt geraten. Ich werde dir Licht geben, aber sage nur, an welcher Stelle du nicht durchblickst.“
„Da, Langius, wo du von Gewalt und Notwendigkeit handelst. Denn ich verstehe nicht, wie du deine Auffassung von Fatum von der der Stoiker abheben willst. Mit Worten und durch die Vordertür hast du diese wohl ausgeschlossen, tatsächlich scheinst du sie aber durch die Hintertür wieder einzulassen.“
„Weit gefehlt, Lipsius, weit gefehlt. Nicht einmal im Traum käme mir der Gedanke, das Fatum nach Art der Stoiker einzuführen. Ich will auch nicht die längst vergessenen Hexen – die Parzen – wieder aufkochen. Ich bevorzuge vielmehr einen gemäßigten und gewissenhaften Schicksalsbegriff, den ich von der rigorosen Lehre der Stoiker durch vier Bestimmungen abgrenze.
1. Argument: Gott Jene unterwerfen Gott dem Schicksal[29], und nicht einmal
und Fatum Jupiter selbst konnte bei Homer seinen Sarpedon aus dessen Fesseln befreien, so sehr er es auch wollte.[30]
Wir dagegen stellen Gott über das Schicksal. Denn wir wollen, dass er alle Dinge völlig frei begründet und voran treibt und,
C 1.20.55 wenn es ihm beliebt, die verwobenen Strömungen oder Windungen des Schicksals überwindet und durchbricht.
2. Argument: Ebenso setzen die Stoiker eine von Ewigkeit her fließende Kette
Ursachenkette der natürlichen Ursachen fest. Wir aber denken, dass die Ursachenkette zum einen keinen permanent dauerhaften Bestand hat (denn Gott hat schon oft aufgrund seiner Wunderzeichen jenseits aller naturwissenschaftlichen Erklärungsversuche oder sogar gegen die Naturgesetze gehandelt), zum anderen können die natürlichen Ursachen nicht von Ewigkeit her bestehen. Denn sie sind nachgeordnete Ursachen, und als solche datiert ihr Ursprung mit der Erschaffung der Welt.
3. Argument: Drittens scheint die Stoa den Dingen die Möglichkeit zu nehmen,
Das Mögliche sich so oder anders zu entwickeln. Wir geben ihnen diese Freiheit zurück.[31] Sooft noch nachgeordnete Ursachen solche sind, die das Mögliche offen halten, muss das Zufällige oder Unvorhersehbare den Ereignissen zugestanden werden.
4. Argument Schließlich, so scheint es, haben die Stoiker doch dem freien
Der freie Wille Willen Gewalt angetan; das aber liegt uns fern. Wir setzen zwar auch das Fatum an, dennoch lassen wir die wichtige Größe der freien Willensentscheidung zu.[32] Denn dass wir dem trügerischen Wind des blinden Glücksfalls aus dem Weg gehen, bedeutet nicht, dass unser Schiff an den Felsen der alles beherrschenden Notwendigkeit stößt. Es gibt ein Fatum? Ja, aber das ist doch nur die erste Ursache, und diese hebt die nachgeordneten und mittelbaren Ursachen nicht auf, so dass die erstere nur (in jedem Fall aber gewöhnlich oder meistens) durch letztere wirkt. Unter diesen nachgeordneten Ursachen ist aber gerade auch dein freier Wille. Und glaub’ ja nicht, dass Gott den etwa zwingt oder wegnimmt.[33]
Darin besteht der ganze Irrtum, das ist der Nebel, der die Wahrheit verhüllt. Es gibt niemanden, der Kenntnis darüber hat, dass er gezwungen ist zu wollen, was das Fatum will: Ich sage, wir wollen aus freien Stücken. Gott, der die Dinge erschaffen hat, gebraucht diese zwar, aber ohne sie in ihrer Eigentümlichkeit zu beeinträchtigen oder zu verfälschen.
Der oberste Himmel führt alle unteren Kreisbahnen so mit seiner eigenen mit, dass er deren eigene Bewegung weder zum Abbruch bringt, noch sonst wie behindert. So handelt auch Gott: Durch den Anstoß des Schicksals verursacht er alle menschlichen Dinge, aber ihre spezielle Kraft und Bewegungsfreiheit nimmt er nicht weg. Wollte er, dass Bäume und Früchte wachsen? So wachsen sie ohne jede gewaltsame Beeinflussung gemäß ihrer natürlichen Veranlagung. Und wollte er, dass die Menschen abwägen und auswählen? So tun sie es ohne Gewalt, kraft ihres freien Willens. Dennoch hat Gott das, was erwählt werden sollte, von Ewigkeit her gesehen; aber gesehen hat er’s, nicht erzwungen; gewusst hat er’s, nicht verordnet; er hat es vorausgesagt, nicht vorgeschrieben.
Weshalb wanken und taumeln hier unsere wissbegierigen Kümmerlinge? Diese erbärmlichen Wichte! Kein anderer Umstand mag mir in hellerem Licht erscheinen; außer dass der nimmer zufriedene Geist sich immer und immer wieder kratzt und aufreizt, weil er von der Krätze des Zanks und neunmalklugen Streits infiziert ist. Wie verhält es sich nun, so sagen die Kritikaster, wenn Gott vorausgesehen hat, dass ich sündigen werde, und die Vorsehung nicht irre gehen kann, muss ich denn dann nicht mit Notwendigkeit sündigen? Dummköpfe! Wer leugnet das denn? Natürlich sündigst du notwendig, aber füge bitte hinzu: durch deinen eigenen Willen. Denn das hat Gott vorausgesehen, dass du
C 1.20.56 genau so fehl gehen wirst, wie er es gesehen hat. Er hat aber auch gesehen, dass du dabei aus freiem Antrieb handelst. Also – sündigst du freiwillig und mit Notwendigkeit.
Das ist doch wohl hinreichend deutlich?!
Aber die Skeptiker lassen keine Ruhe: Gott sei doch der Urheber jeglichen Antriebs in uns. Im Allgemeinen ist er wohl der Urheber,[34] das gestehe ich zu. Aber er gibt nur dem Guten seine Zustimmung. Du schickst dich an zur Virtus, zum guten Handeln? So weiß er es und wird dir helfen. Aber zum Laster, dem verwerflichen Tun? So weiß er’s auch – und lässt dich gewähren. Dabei trägt er allerdings keine Schuld.
Stell dir vor, ich sitze auf einem Pferd und treibe es an, obwohl es lahm ist und hinkt. Der Antrieb kommt von mir, aber dass es lahm ist, liegt an ihm. Oder ich schlage eine Laute an, die dissonant klingt und mit Darmsaiten schlecht bespannt ist. Du wirst zugeben, dass die Misstöne zu Lasten des Instrumentes gehen, aber nicht mir als Fehler anzurechnen sind. Die Erde hier, auf der wir stehen, ernährt alle Bäume und Pflanzen mit einem allen gemeinsamen Lebenssaft; dennoch tragen die einen Heil bringende Früchte, andere sind giftig. Was willst du dazu sagen? Dass die Erde dies verschuldet? Oder nicht eher, dass dieser Umstand von der den Bäumen innewohnenden Eigenschaft herrührt, die die gute Nahrung in das ihnen eigentümlich Gift umschmilzt?
So verhält es sich auch hier: Von Gott hast du die Fähigkeit, dich zu drehen und zu wenden – wenn du dich aber zum Bösen wendest, kommt das von dir und liegt allein an dir.
Ich möchte nun die Erörterung der Freiheitsproblematik beenden: Das Fatum ist lediglich ein Vortänzer und führt das Seil in diesem Theater der Welt, doch die Rolle des Wollens und Nicht-Wollens liegt immer bei uns. Mehr nicht! Denn wir spielen nicht den Part des tatsächlichen Wirkens: Der freie Wille wenigstens ist dem Menschen belassen; damit mag er Gott Widerstand entgegenbringen wollen, die Kraft, durch die er dies auch durchzusetzen vermöchte, hat er allerdings nicht. Auf einem Schiff ist es mir möglich, die Gänge entlang zu laufen und mich an Deck frei zu bewegen, aber die Bewegungsfreiheit bringt das Schiff doch nicht von seinem Kurs ab. So verhält es sich auch an Bord des
Schicksalsschiffes, auf dem wir alle segeln; die einzelnen Vorstellungen und Wünsche dürfen hierhin und dorthin laufen, doch sie werfen das Boot nicht aus seiner Bahn oder bringen es zum Stillstand. Der höchste Wille wird immer die Zügel führen und dieses Gefährt mit sanfter Hand lenken, ganz nach seinem Plan.
C 1.21.56 Kapitel 21
Abschluss der Abhandlung über das Fatum –
unter Hinweis auf die große Gefahr allzu tiefen Forschens.
Schließlich eine ernsthafte Mahnung, auf dass dem Geist
von der Notwendigkeit her Stärke und Kraft eingeprägt werde.
W
as soll ich hierbei noch verweilen? Ich drehe bei und wen-
de mein Schiff ab von dieser Charybdis, die schon so viele
kluge Köpfe verschlungen hat.
C 1.21.57 Ich sehe noch den Schiffbruch Ciceros, der lieber die Vorsehung leugnen wollte, als auch nur ein wenig der menschlichen Freiheit aufzugeben.[35] ‘Während er die Menschen auf diese Weise frei machte’ (sagt der Bischof von Hippo[36] sehr klug) ‘hat er sie gleichzeitig zu Gotteslästerern gemacht.’ Auch unter uns Christen ist’s der Damascenus, der ebenso in dieser Brandung herumschwimmt: Der lässt die Vorsehung zwar bei allen anderen Dingen zu, nur nicht bei denen, die sich auf uns selbst beziehen.
Diese Gefahren sollen uns zur Mahnung gereichen, lieber das sichere Land zu wählen, als zu weit in dieses Meer hinaus zu schwimmen. Als Euclid einst vieles über die Götter gefragt wurde, antwortete er passend: ‚Ich weiß sonst nichts, aber das eine weiß ich – sie hassen die Neugierigen.’ Denke ebenso über das Fatum: Es will geschaut werden, aber nicht erforscht. Man soll daran glauben, es aber nicht wissenschaftlich ergründen wollen.[37] Ich glaube, es ist ein Wort des Bias: ‘Von den Göttern sage nur, dass sie sind.’ Das ist sehr schön auf das Schicksal oder Fatum übertragbar: Es reicht zu wissen, dass es da ist, und du begehst keinen Fehler, wenn du das übrige außer Acht lässt.
So, ich komme nun wieder von den verschlungenen Pfaden zurück auf meinen alten und offenen Weg: Es ist unserem Sparta eigen zu glauben, dass die Notwendigkeit den öffentlichen Plagen wesensgemäß ist. Darin sollst du Trost für deine Trauer finden.
Wieso ist es deine Sache, begierig der Freiheit oder Knechtschaft des Willens nachzuforschen? Oder ob dein Wille gezwungen wird oder geleitet? Du armer Kerl! Dein Syrakus wird eingenommen, und du malst immer noch im Staub herum.[38] Der Krieg schwebt über deinem Haupt. Tyrannei, Mord und Tod werden dir von
oben geschickt, aber nichts unterliegt deiner Entscheidung. Du kannst dich wohl vor diesen Dingen fürchten, aber aus dem Weg gehen kannst du ihnen nicht. Du kannst weglaufen, entkommen wirst du ihnen nicht. Lege dir eine entsprechende Bewaffnung dagegen zu und ergreife die Wehr des Fatum. Damit fügst du all deinen Schmerzen nicht nur einen Nadelstich zu, sondern du machst ihnen den Garaus. Sie werden nicht gelindert, sondern verschwinden ganz.
Wenn man eine Brennnessel vorsichtig anfasst, brennt sie; packt man aber beherzt zu, verliert sie ihre Wirkung. Ebenso wächst die Stärke der Trauer, wenn man ihr mit zu seichten Mitteln zu Leibe rückt, dagegen schwindet sie bei harten und strengen Arzneien.
Es gibt aber nichts Stärkeres und Wirksameres als die Notwendigkeit. Mit einem einzigen Schlag zerschlägt sie den schlappen Haufen von Nichtigkeiten. Denn was soll der Schmerz für eine Bedeutung haben? Du findest doch darin keinen Sinn, wenn das Ungemach nicht nur geschehen kann, sondern geschehen muss. Was soll dein Klagen? Du magst ein himmlisches Joch schütteln, abwerfen kannst du es nicht. ‘Hör auf zu hoffen, durch Klagen der Götter Schicksalsspruch zu beugen.’ Es gibt kein Entkommen vor der Notwendigkeit außer zu wollen, was sie erzwingt. Vorzüglich hat dies ein ganz Großer unter den Weisen zum
C 1.21.58 Ausdruck gebracht: ‘Du wirst unbesiegbar sein, wenn du dich in keinen Kampf begibst, den du nicht gewinnen kannst.’[39]
Aber ein solcher Kampf ist es, den man gegen die Notwendigkeit führen möchte: Jeder, der ihn aufnimmt, unterliegt. Und – was dich noch mehr verwundern mag – man hat schon verloren, bevor man die Schlacht begonnen hat.“
C 1.22.58 Kapitel 22
Das Schicksal als Ausrede für Feigheit und Trägheit.
Verweis auf das Fatum, die mittelbaren Ursachen[40] und die Pflicht zu handeln.
Wieweit dem Vaterland zu helfen sei – wieweit sich dieses Engagement verbietet.
Abschluss des 1. Buches und der 1. Rede.
A
ls Langius hier eine Pause einlegte, ging ich freudig dazwi-
schen: „Wenn jetzt der Wind noch etwas länger von hinten
bläst, scheint mir der Hafen nicht mehr weit. Denn schon wage ich, Gott zu folgen, wage ich, der Notwendigkeit zu gehorchen, und ich glaube, mit Euripides sagen zu können: ‘Ich will ihm lieber ein Opfer darbringen, denn als Sterblicher wider den Stachel zu löcken und gegen Gott zu wüten.’ Aber noch ein wirrer Gedanke treibt mich um; den, Langius, bringe zur Beruhigung: Wenn die öffentlichen Plagen vom Fatum herrühren und dieses nicht überwunden werden kann, warum mühen wir uns dann noch wegen des Vaterlandes ab, warum sollen wir uns noch für es einsetzen? Weshalb überlassen wir nicht alles jenem großen und unüberwindlichen Herrscher und legen selbst, wie man so schön sagt, die Hände in den Schoß? Denn auch du gibst doch zu, dass jede Hilfsmaßnahme und jede gedankliche Anstrengung vergebens ist, wenn die Zeichen des Schicksals ungünstig stehen.“
Daraufhin antwortete Langius mit einem hintergründigen Lächeln: „Mit Starrsinn und Frechheit, junger Freund, kommst du mir vom rechten Weg ab. Geht es darum, dem Schicksal zu folgen oder es zu verhöhnen und Schindluder damit zu treiben? Du willst also dasitzen und die Hände in den Schoß legen. Schön, ich wollte lieber, du würdest den Mund halten. Wer hat dir denn jemals erzählt, das Fatum wirke einzig und allein, ohne sich der mittelbaren und helfenden Ursachen zu bedienen?
So mag es dein Schicksal sein, von deiner Frau Kinder geschenkt zu bekommen; doch vorher musst du doch im Garten deiner Gattin deine Saat ausstreuen. Es mag dir bestimmt sein, von einer Krankheit zu genesen, doch so, dass du einen Arzt hinzuziehst und heilende Umschläge anlegst. Ähnlich ist es auch in diesem Falle: Wenn es das Schicksal vorsieht, dass das vom Untergang bedrohte Schiff deines Vaterlandes gerettet wird, dann ist es auch
C 1.22.59 Schicksal, dass du für dieses kämpfst und es verteidigst. Willst du zum Hafen gelangen, musst du dich in die Riemen legen und die Segel setzen; da darfst du nicht faul dasitzen und auf Wind von oben warten. Dagegen: Wenn das Schicksal bestimmt, dass dein geliebtes Vaterland zugrunde geht, dann geschieht durch das Fatum natürlich auch das, was den Untergang durch menschliche Verhaltensweisen begünstigt: Das Volk wird mit dem Adel streiten und untereinander hadern. Niemand ist bereit zu gehorchen, keiner in der Lage zu befehlen. Viele werden die Stärke im Munde führen, aber sich ihrem Handeln nach als faule Hunde erweisen. Bei Fürsten und Heerführern gibt es schließlich kein kluges Planen mehr noch Vertrauen.
So hat Velleius[41] richtig erkannt: ‘Die unüberwindliche Macht des Schicksals zerschlägt die Pläne und Vorkehrungen desjenigen, dessen Glück es ins Gegenteil kehren will.’ An anderer Stelle sagt er: ‘So verhält sich die Sache, dass Gott meistens die Vorhaben der Menschen verdirbt, wenn er ihr Geschick wenden will. Was aber das Schlimmste dabei ist, ist die Tatsache, dass er es schafft, uns das Ereignis als verdiente Strafe erscheinen zu lassen.’ Und dennoch wirst du nicht sogleich dem Irrtum verfallen zu denken, unabwendbare Schicksalsschläge drückten deinem Vaterland die Gurgel zu. Denn woher weißt du das? Und woher weißt du, ob es sich bloß um eine leichte Erschütterung handelt oder um eine Krankheit, die zum Tode führt? Also, leiste Hilfe, tu was! Wie das alte Sprichwort sagt: Solange der Kranke noch atmet, hege Hoffnung! Wenn dann aber die Zeichen für eine fatale Veränderung hell und klar erkennbar sind, ist für mich jedenfalls jenes Wort gültig: ‘Gegen Gott zu streiten lohnt sich nicht.’ Dazu möchte ich das Beispiel Solons aufzeigen: Als Peisistratos Athen in seine Gewalt gebracht hatte und der Weise sah, dass alle Versuche, die Freiheit wiederherzustellen, vergeblich waren, da legte er Schwert und Schild vor der Ekklesia, der Volksversammlung,[42] nieder und sagte: ‘Oh, Vaterland, ich habe dir mit Worten und Taten gedient.’ Danach ging er nach Hause und lebte fürderhin ruhig und zurückgezogen.
Handele ebenso: Gib Gott nach und den Zeitumständen; und wenn du ein rechtschaffener Bürger bist, dann halte dich bereit für bessere und geneigtere Zeiten. Wenn die Freiheit jetzt vergeht, so kann sie auch wieder neu erstehen; wenn dein Land in Schutt und Asche liegt, dann kann es in einer ferneren Zeit auch wieder auferstehen. Warum verzweifeln und den Mut sinken lassen? Von den beiden Konsuln bei Cannae halte ich Varro, der die Flucht ergriff, für den tapfereren Bürger als Paulus, der in den Tod ging.[43] Nicht anders urteilten Senat und römisches Volk: Sie dankten Varro in aller Öffentlichkeit, weil er nicht am Heil der Res publica verzweifelt war.
Im Übrigen: Ob dein Vaterland nur wankt oder ob es fällt, ob es niedergeht oder ganz und gar untergeht, soll dich nicht anfechten, sondern mache dir die herausragende Gesinnung des Krates zu Eigen. Der antwortete Alexander auf dessen Frage, ob er wolle, dass seine Heimatstadt Theben[44] wieder aufgebaut werden solle: ‘Wozu? Vielleicht kommt dann ein anderer Alexander und reißt sie wieder ein.’ Das sind die Worte eines Weisen, das ist die Haltung eines Mannes.
C 1.22.60 ‘Gleichwohl werden wir den Schmerz nicht in unserem Herzen Wohnung finden lassen, wenn wir auch noch so traurig sind. Denn es entbehrt die bitt’re Trauer jeglichen Sinns.’ Denk an diese gut gemeinte Mahnung, die bei Homer dem Achill mit auf den Weg gegeben wird. Denn anderenfalls geht es dir wie dem Kreon aus den Mythen, der seine brennende Tochter umarmte, ihr aber damit nicht half, sondern mit ihr zusammen verbrannte:[45] Du wirst dich eher selbst vernichten, Lipsius, als mit deinen Tränen dies politische Feuer Belgiens löschen.“
Während Langius noch redete, ertönte von den Türflügeln her ein lautes Geräusch und ein Junge trat direkt auf uns zu, der von dem hochberühmten Torrentius geschickt war, um uns an die Essenszeit zu erinnern.
Langius schreckte regelrecht auf und sprach: „Hat mich denn mein Gerede über die Zeit hinweggetäuscht, und ist mir der Tag heimlich entglitten?“ Sogleich erhob er sich und nahm mich bei der Hand. „Komm, Lipsius,“ ermunterte er mich. „Lass uns zum Abendessen gehen, mir knurrt schon der Magen.“[46] „Ach, lass uns lieber sitzen bleiben,“ antwortete ich dagegen. „Wichtiger als alles Schlemmen ist mir die Speise der Götter, wie die Griechen es nennen. Bei solchem Festmahl bin ich stets ein Hungerleider und kann nie genug kriegen.“ Doch Langius zog mich nichtsdestotrotz mit sich und sprach: „Lass uns für jetzt unser Wort halten! Morgen, wenn du willst, werden wir uns erneut der Constantia zuwenden.“
Ende des 1. Buches
[1] Zum Fatum Mathematicum s. Weisheit S.113ff.
[2] Gemeint ist Hermes Trismegistos, der mit einer umfangreichen Textstelle die Grundlage der nun folgenden Ausführungen bildet (Hermetica 1.434.z.8-15).
[3] Zum Fatum Naturale s. Weisheit S. 108ff.
[4] C 1.18.49 „ab alia … magis caelesti aura.“ Vir. 53 paraphrasiert hier frei: „so, das mich dünket, es habe weit ein ander Mann gemacht.“ Doch trifft er damit den Nagel auf den sprichwörtlichen Kopf, gilt doch heute die Schrift „De Mundo“ als pseudoaristotelisch; vgl. Weisheit S. 111f. u. Anm. 51f.
[5] Stobaeus, Eclog. Phys. 1.7.17.
[6] In besagter Stobaeusstelle sind nach Aristoteles Geist (), Natur (), Notwendigkeit () und Zufall () als Ursachen aufgeführt (s. Weisheit 109, Anm. 45). Der Zufall wird allerdings bei Aristoteles in Physik und Metaphysik eindeutig als unwesentliche oder akzidentelle Ursache ausgewiesen. Phys. 197a5-198a13; Met. 1065a30-35; vgl. Weisheit S. 110f.,Anm. 50.
[7] Zum Fatum Violentum s. Weisheit S. 96ff.
[8] Sen. nat. quaest. 2.36.
[9] SVF II 264.14-15.
[10] Lipsius spielt auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Stoa (=Säulenhalle) an.
[11] Sen. de prov. 5.8; s. Weisheit S. 97, Anm. 6.
[12] Gellius N.A. VII2, SVF II fr. 1000. Bei Lipsius (C 1.18.50) „apud Agellium“ zu lesen: „apud A. Gellium“.
[13] SVF I 44.36-37; 45.1-2.
[14] Die Formulierung „ewige Vernunft“ geht nach Stobaeus auf Platon zurück, der diese dann als „Wesen des Schicksals“ bezeichne (Stobaeus, Eclog. Phys. 1.6.15/ Heeren p.178). Aus den Stoikerfragmenten (SVF II 265.30-31 u. 269.13) läßt sich ein „“ lediglich rekonstruieren. S. Weisheit S. 99f. u. Anm. 13f.
[15] Dieses Wort geht auf Antipater zurück /SVF III 249.21-22), s. Weisheit S. 100, Anm. 16.
[16] „<auctor> rerum et naturarum“; stattdessen in SVF II 305.36 (Sen. de benef. IV7) „rerum nostrarum“.
[17] Sen. de benef. IV 7.
[18] Das folgende Zitat stammt aus Ps.Arist. de mundo 401b8-10; s. Weisheit S. 112 u. Anm. 52 und oben S. ?? Anm. 4.
[19] Lipsius beschließ diese Kapitel mit einem Wortspiel: „cuius non solum numen ab iis fortiter explosum, sed et nomen.“
[20] Zur Problematik des Fatum Verum im Überblick s. Weisheit S. 88ff u. S. 92ff.
[21] Lipsius kurz und bündig: „Fatum enim certe a fando“.
[22] Pico della Mirandola, Disp. adv. Astrologiam 4.4.
[23] Boethius, Cons. 4.p6.21ff, s. Weisheit S. 89f.
[24] Vgl. SVF 268.13; 324.23; I 41.23-24, s. Weisheit S. 89 und Anm. 6.
[25] Wörtlich „“; in einer Randnotiz (n.2) unter Zuhilfenahme einer lat. Übersetzung, „milium terebrare“ (Hirse bohren), auf Galenus zurückgeführt.
[26] Lipsius verweist in der Randnotiz (n.4) auf Augustinus, Isidorus und Thomas v. Aquin.
[27] Zur Diskussion der Problematik und Quellenlage dieser Ursachenlehre s. Weisheit S. 92f und die umfangreiche Anm. 16, S. 93f.
[28] Zur Stellung des Kapitels 20 im Kontext der Constantia sowie dem Versuch einer christlichen Profilierung gegenüber der Stoa s. Weisheit S. 107ff.
[29] Siehe dagegen o. S. ?? Kapitel 18.
[30] Homer, Ilias 16,431-458.
[31] Zur Begriff des Möglichen, der durchaus Bestandteil stoischer Philosophie ist, s. Weisheit S. 104ff.
[32] Zur Übersicht über die philosophische Dimension des freien Willens s. Weisheit S. 126-142.
[33] In der Glosse (n.3) verweist Lipsius auf Augustinus und zitiert den Kirchenvater (Aug. de civ. dei 5.10) frei: „Denn der Wille kann nicht gezwungen werden zu wollen, was er nicht will: denn es ist nicht so, daß wir etwas wollen, wenn wir nicht wollen.“
[34] Viritius setzt diesem „communiter auctor“ eine Glosse hinzu, die im lateinischen Original nicht enthalten ist (Vir. 63,n.1): „Nemlich, dieweil er uns erschaffen un noch erhelt.“
[35] Zum „Schiffbruch Ciceros“ s. Weisheit S. 135f.
[36] Sc. Augustinus.
[37] Zur Grenze des Wissens und menschlichen Forschens s. Weisheit S. 141f.
[38] Hier eine Anspielung auf den Tod des Archimedes 212 v. Chr. bei der Eroberung von Syrakus durch die Römer während des 2. Punischen Krieges.
[39] Epiktet, Enchirid. 19.
[40] S. o. Kap. 20, S. ??.
[41] Die Glosse (n.2) verweist auf Velleius Paterculus (lib. II De Caesare), den Legaten des Tiberius in Germanien und Pannonien.
[42] Damit soll Lipsius’ Ausdruck „vor den Toren der Curie“ („ante fores Curiae“) auf Athen übertragen werden, das nach den Solonischen Reformen in der Ekklesia ein Rechts- und Machtzentrum besaß. Zum Vergleich die Übertragung des Viritius (69) „Fur die Thür des Rhathauses“.
[43] Die Konsuln Caius Terentius Varro und Aemilius Paulus führten 216 v. Chr. das römische Heer in die legendäre Niederlage bei Cannae gegen die Karthager unter Hannibal.
[44] Zerstörung Thebens 335 v. Chr. nach Alexanders Exekutionsfeldzug gegen die rebellierende Stadt.
[45] Kreon in der Medea-Jason-Mythologie: Medea räumt mit Hilfe ihrer Zauberkünste die Rivalin Glauke, Kreons Tochter, aus dem Weg. Sie schickt ihr u.a. ein Gewand, das in Flammen aufgeht, als Glauke es anlegt.
[46] Die hier anzutreffende Wendung der „cena optata“ läßt bei der oft hart anmutenden stoischen Diktion einmal eine sympathisch menschliche, um nicht zu sagen epikureische Lebensweise durchscheinen.
Mit WordToHTML.net in HTML umgewandelt | E-Mail-Signatur-Generator