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C 2.20.97 Kapitel 20

 

Wir kommen zur vergleichenden Betrachtung. 

Doch zunächst wird dabei das aktuelle und aufgeblähte Übel Belgiens 

als Wahnvorstellung widerlegt. So wird gezeigt, dass der Mensch dazu neigt,

eigenes Leid zu übertreiben.

 

 

 D

                                       as hatte ich nicht erwartet oder gar gehofft: eine solch

                                       strenge Rede des Langius. Daher unterbrach ich ihn: „Wo

 gehst du hin? Hast du mir etwa solches versprochen? Ich erwartete den süßen Honigtrank von Erzählungen; doch du gehst mich hart an und bietest mir die unverfälschte Nahrung der Weisheit an. Was denkst du eigentlich? Du hättest es hier mit irgendeinem Thales zu tun? Nein, ich bin’s, Lipsius! Keiner der sieben Weisen, sondern ein Mensch unter ganz normalen Menschen, der auch mal eine Medizin ersehnt, die etwas menschlicher ist.“

 Langius antwortete mit sanfter Stimme und einem Lächeln: „Schuldig! Du scheltest mich mit Recht. Denn ich folge dem leuchtenden Strahl der Vernunft und sehe: Ich bin dabei wohl von der öffentlichen Straße abgewichen und unversehens auf den steilen Pfad der Weisheit geraten. Ich korrigiere sofort meine Richtung und begebe mich in dir vertrautes Gebiet. Dir missfällt also der trocken herbe Falernerwein? Gut! Ich werde ihn dir mit der Süße zahlreicher Beispiele mildern. Schau, ich komme also zum

Vergleichende  Vergleich und werde deutlich aufzeigen, dass nichts schwer oder

Betrachtung groß an den Übeln ist, die hier überall um uns sind, wenn du sie den alten, vergangenen gegenüber stellst. Denn einst herrschte vielfach und größer Leid.“

 Doch hier war ich mit meiner Geduld am Ende: „Was sagst du da? Glaubst du etwa, mich so überzeugen zu können? Niemals, Langius, solange dieser Schädel hier noch denken kann. Denn welches Zeitalter hat, wenn du es recht untersuchst, solches Elend erdulden müssen wie unseres? Oder welch zukünftiges wird’s wohl müssen? Welches Volk hat wo auch immer soviel Schweres ertragen und Hartes zu erleiden wie wir heute?

 Siehe, wir werden vom Kriege geschüttelt, und nicht nur vom äußeren Feind bedroht, sondern auch vom Bürgerkrieg. Doch damit nicht genug, geht der Kampf bis ins Innerste der Seele des Staates: denn es gibt ja nicht nur Parteien unter uns, sondern – O, Vaterland, welch Heil soll dich noch retten? – aus den Parteien entstehen ja immer neue Absplitterungen. Dazu die Pest, dazu die Hungersnot, dazu Abgaben, Raub, Mord und am ärgsten die Tyrannei und Unterdrückung nicht nur des Leibes, sondern auch der Seele. Gibt’s etwa in Europa noch was anderes? Entweder herrscht Krieg oder die Angst vor Krieg. Und was ist, wenn Friede besteht? Dann ist er verbunden mit schmählicher Knecht-

C 2.20.98 schaft unter elenden Herren, auch nicht erhebender als jeder Krieg. Wohin du auch Augen und Geist wenden magst: alles ist ungewiss und verdächtig. Und wie an einem schlecht abgestützten Haus erkennst du viele Zeichen des Verfalls. Alles in allem, Langius, wie alle Flüsse ins Meer fließen, so scheint der Fluss aller Übel unsere Zeit zu überfluten. Und ich erwähne nur das, was ich mit den Händen greifen kann. Was ist erst mit dem, was uns noch droht? Darüber kann ich wohl mit Euripides klagen: ‚Ein solch großes Meer der Übel erblicke ich, dass es nicht leicht wird, wieder heraus zu schwimmen.’[1]

Langius sah mich streng an, als wollte er mir Einhalt gebieten: „Schon wieder ziehst du dich runter durch solche Klagen. Ich glaubte schon, du ständest fest und sicher. Doch du fällst wieder hin. Ich dachte, deine Wunden seien geschlossen. Doch du reißt sie wieder auf. Dabei brauchst du einen ruhigen Geist, wenn du genesen willst.

‚Ach wie unglücklich ist doch unsere Zeit,’ sagst du. Das ist doch ein altes Lied! Dein Großvater hat doch schon dasselbe gesungen. Genauso dein Vater. Und ich weiß, deine Nachfahren und Enkel werden genauso reden. Es liegt wohl im Wesen des Menschen, dem Traurigen genauer sich zuzuwenden, das Freudige aber zu vernachlässigen.

Wie Fliegen und ähnliche Insekten nicht lange auf glatten und polierten Flächen sitzen bleiben, sondern lieber an rauen kleben, so überfliegt der kläglich wimmernde Geist mit Leichtigkeit das, was ihm Gutes widerfahren; das raue Geschick aber kann er nicht vergessen. Er betastet es, schaut es an – und in den meisten Fällen versteht er, es kunstvoll auszuschmücken und zu mehren. Wie die Liebenden in ihrer Angebeteten immer genau das finden, warum sie ihnen die Teuerste vor allen anderen ist, haben die Leidenden denselben Erfolg in ihrem Schmerz! Wir erdichten doch sogar die unmöglichsten Dinge und betrauern doch nicht nur Gegenwärtiges, sondern auch schon das, was noch gar nicht geschehen ist. Und worin liegt der Lohn unserer scharfsinnigen Gehirntätigkeiten? Dass uns der trügerische Schatten fernen Ungemachs zu Boden wirft. Nicht anders geht es einem Heer, das allein auf Grund einer Staubentwicklung in der Ferne aus dem Lager ausrückt.

 

 


C 2.21.98 Kapitel 21

 

Aus dem Vergleich mit antiken Übeln schließlich 

die eigentliche und erschöpfende Widerlegung: 

zunächst über Kriege und die sonderbare Niederlage der Juden.

 

 A

                                       ber du, Lipsius, schmeiß doch dies dümmliche Zeug über

                                       Bord. Folge mir zum Vergleich, den du forderst. Dadurch

wird dir deutlich: Nicht nur gleiches Leid herrschte einst bei aller Art von Plagen, sondern sogar größeres. Und unser Zeitalter hat

C 2.21.99 durchaus eher Anlass zum Dank als zur Klage.

 Du sagst, wir würden von Krieg geschüttelt. Was? Gab es etwa bei unseren Vorfahren keine Kriege? Im Gegenteil, Lipsius, sie sind entstanden mit der Entstehung der Erde. Und sie werden nicht verschwinden, es sei denn durch den Untergang derselben. Aber sie waren vielleicht nicht so groß oder schwer wie unsere? Das Gegenteil ist der Fall! Alle heutigen Kriege sind – im Ernst – verglichen mit den früheren ein Kinderspiel und Scherz. Ich finde so leicht nicht Anfang noch Ende, wenn ich einmal in die Tiefen dieser Vergleiche eindringe. Aber du möchtest einen kleinen Streifzug durch Teile der Welt unternehmen? Nun denn: Geh’n

Judäa wir! Beginnen wir doch in Judäa, d.h. beim Heiligen Land und Volk. Ich lasse dabei die Leiden in oder nach dem Auszug aus Ägypten weg. Das ist hinreichend in der Heiligen Schrift überliefert und dort leicht nachzulesen. Ich komme gleich zum Äußersten und das steht in Verbindung mit dem Untergang der Juden. Das muss ich im Einzelnen darlegen und anzeigen.[2] Sie erlitten demnach in nicht ganz sieben Jahren, folgendes:

Jerusalem – 630 Tote, auf Befehl des Florus

Caesarea – aus Hass auf Volk und Kult durch die Einwohner 20.000 Tote auf einmal.

Scythopolis[3] (eine Stadt in Südsyrien) – 13.000

Ascalon in Palästina – ebenfalls durch die Einwohner 2.500

Ptolomais gleichermaßen – 2.000

Alexandria in Ägypten, unter dem Statthalter Tiberius Alexander – 50.000

DamasKus – 10.000

Und das alles geschah bei einem Aufruhr oder Pogrom. Dann
aber im erklärten und offenen Krieg,[4] geführt von den Römern:

Joppe, eingenommen von Caesius Florus  –  8.400 Gefallene

Auf einem Berg namens Cabulo    2.000

In der Schlacht von Ascalon – 10.000

Durch Hinterhalt –   8.000

Bei der Einnahme von Aphaca – 15.000

Auf dem Berg Garizim – 11.600

Iotopa, wo Josephus selbst war -ca. 30.000

C 2.21.100 Bei der 2. Eroberung Joppes Ertränkte –   4.200

 Tarichea, Getötete –   6.500

 Im Gamala wurden so viele getötet,

 wie sich selbst hinabstürzten –   9.000

 Kein einziger Mann hat aus dieser Stadt überlebt,

 außer 2 Frauen, Schwestern.

 Von denen, die aus Giscala geflohen waren, sind 2 x 1.000 niedergemetzelt worden. Von den Frauen und Kindern wurden gefangen genommen              –   3.000

 Gadara, Erschlagene – 13.000

 Gefangene –   2.200

 Nicht erwähnt die Zahllosen, die sich in den Fluss stürzten.

 Idumaea, eine Gegend von Palästina – 10.000 Tote

 Gerasi –   1.000

 Machaerunt –   1.700

 Im Wald von Iardes –   3.000

 Auf der Burg Massada starben von eigener Hand – 960.

 In Cyrene, unter dem Statthalter Catul –   3.000

 Doch in Jerusalem selbst sind während der ganzen Zeit der Belagerung gestorben oder getötet worden               – 10 x 100.000

 Gefangen wurden – 97.000

 Im Ganzen sterben (außer den Unzähligen, die durch Hunger, Exil und Elend zugrunde gingen) ca. 1.240.000.[5]

 Was sagst du nun, Lipsius? Du schlägst die Augen nieder? Erhebe dich lieber. Und vergleich mir doch bitte einmal einige Kriege aus den Jahren der christlichen Welt mit der Niederlage dieses einen Volkes. Doch wie gering an Menschenzahl und Landmenge ist jene Region von Judäa und Palästina verglichen mit Europa?!

 

 


C 2.22.100 Kapitel 22

 

Über Kriegsniederlagen der Griechen und Römer.

Zahlreiche Opfer weniger Feldherren.

Die Verwüstung der Neuen Welt.

Das Elend der Kriegsgefangenen.

 

 

 D

                                       och ich will hier nicht länger verharren und wende mich

                                       nach Griechenland. Doch es wäre fruchtlos und bei weitem

Griechenland unsinnig, wollte ich alle Kriege der Reihe nach auflisten, die die Griechen untereinander oder gegen äußere Feinde geführt haben. Ich möchte nur soviel sagen, Hellas war von dauernden Waffengängen derart erschöpft und ausgezehrt, dass Plutarch überliefert

C 2.22.101 (nie habe ich’s ohne Faszination und Verwunderung gelesen), das gesamte Land sei nicht in der Lage gewesen, 3.000 Soldaten aufzustellen: und das habe im Persischen Kriege doch allein die Stadt Megara fertig gebracht. Oh, wie tief bist du doch gefallen, du Blume unter allen Ländern, du Sonne und Salz der Völker! Es gibt doch heute kaum eine Stadt in diesem schamlosen Belgien, die nicht fähig wäre, eine solche Anzahl in die Schlacht zu führen.

Italien Nun, wollen wir Italien durchstreifen zur Zeit der Römer? Doch längst haben Augustinus[6] und Orosius[7] mir diese Last der Überprüfung abgenommen. Lies die beiden, und du findest ein Meer der Leiden! Allein der 2. Punische Krieg hat in Italien, Spanien und Sizilien über 1.500.000 Opfer gekosten, in nicht mal ganzen 17 Jahren – denn ich habe genau nachgeforscht. Der Bürgerkrieg Caesars gegen Pompeius forderte noch mal ungefähr 300.000 Tote. Und noch mehr die Waffengänge des Brutus, Cassius und Sextus Pompeius. Schau allein diesen Gaius Caesar (oh Pest und Untergang des Menschengeschlechts). Der brüstet sich gar damit, 11 mal 142.000[8] Menschen in seinen Schlachten getötet zu haben. Jedoch so, dass die Hingemetzelten der Bürgerkriege noch dazu gerechnet werden müssen. Denn die obigen Bluttaten wurden in den wenigen Jahren in Spanien und Gallien gegen fremde Völker verübt. Doch sogar noch schlimmer war darin jener Magnus, der in das Heiligtum der Minerva schrieb, er habe 21 mal 183.000 Menschen vertrieben, in die Flucht gejagt, getötet oder als Geiseln genommen. Denen kannst du, wenn du willst, noch den Q. Fabius hinzufügen, der 110.000 Gallier tötete. Oder den C. Marius mit 200.000 Kimbern. Oder lange Zeit später den Aetius, der in der denkwürdigen Schlacht auf den Katalaunischen Feldern[9] 162.000 Hunnen abschlachtete.

 Und dass du nicht denkst, in solchen Kriegen seien nur Menschenopfer zu beklagen – es waren ganze Städte! So rühmt sich Cato Censorius,[10] in Spanien mehr Städte eingenommen zu haben, als er Tage dort verbrachte. Sempronius Gracchus hat daselbst, wenn man dem Polybios[11] glaubt, 300 Städte zerstört. Ich denke schon, es gibt kaum eine Zeit, die an diese Beispiele heranreicht

Die Neue Welt – als die unsere. Aber in einer anderen Welt!

 Nur wenige Spanier sind vor 80 Jahren in diese unermesslichen Weiten eines neuen Erdteils vorgestoßen. Aber, gütiger Gott, was für ein Morden, was für ein Werk der Vernichtung haben sie angerichtet?! Und dabei rede ich überhaupt nicht über Ursachen eines solchen Krieges oder ob sie ein Recht dazu hatten. Ich bedenke lediglich die Folgen. Ich stelle mir diesen ungeheuren Raum vor. Es muss schon etwas Großartiges sein, diese Welt gesehen zu haben. Gesehen sag ich, nicht besiegt. Und dann sehe ich, wie zwanzig, dreißig Soldaten diese Länder durchstreifen und ringsumher Scharen von wehrlosen Menschen niedermetzeln, als würden sie das Getreide vom Felde mähen.

 Wo bist du, Kuba, größte der Inseln? Du Haiti? Ihr Inseln der Bahamas? Einst wart ihr von 5-600.000 Menschen bevölkert. Heute sind kaum 15.000 übrig, die den Fortbestand der Bevölkerung gewährleisten können. Und du, Peru, zeige dich doch mal, du Gestade Mexikos. Doch was für ein seltsam erbärmliches Bild gibst du ab? Das riesige Land, die Neue Welt, erscheint derart wüst und ausgezehrt, als wäre sie durch Feuer vom Himmel niedergebrannt.[12]

 Verstand und Sprache wollen mir schwinden, Lipsius, wenn ich dies alles bedenke; und ich sehe unsere Probleme im Vergleich dazu wie nichtige Spreu oder, wie der Komödiant sagt, als kleine Kornwürmchen an.

 Und doch habe ich bisher noch gar nicht das Gesetz der Versklavung erwähnt: es gab wohl nichts Härteres in den Kriegen der Alten. Freie, Edle, Kinder und Frauen riss der Sieger aus ihrer vertrauten Umgebung weg – vielleicht in ewige Knechtschaft. Allerdings eine Knechtschaft, deren Spuren, wie ich zu recht und mit Freude anmerke, in der christlichen Welt nicht anzutreffen waren und bis heute nicht anzutreffen sind. Wohl nehmen dies Recht die Türken für sich in Anspruch. Und es ist ja gerade dies, was uns die Herrschaft dieser Skythen so verhasst und schrecklich macht!

 

 


C 2.23.102  Kapitel 23

 

Hervorstechende Beispiele für Pest und Hungersnöte. 

Dazu noch Abgabenpflicht einerseits und Plünderung andererseits.

 

 D

                                       och du klagst in einem fort: Pest und Hungersnöte fügst

                                       du noch an, sowie Abgaben und Räubereien. Du möchtest

 also, dass wir uns das im Einzelnen anschauen. Aber mal ganz kurz nur: Sag mir, wie viel tausend, glaubst du, hat die Pest in ganz Belgien dahingerafft? In diesen fünf oder sechs Jahren. Ich

Pest denke, es waren fünfzig- oder, wenn’s hoch kommt, hunderttausend. In Judäa jedoch hat die Pest zur Zeit Davids siebzigtausend Menschen hinweggerafft – an nicht ganz einem Tag![13] Unter den Kaisern Gallus und Volusianus hat eine Pest von Äthiopien kommend alle römischen Provinzen durchzogen und fünfzehn lange Jahre unglaublich gewütet.[14] Niemals las ich von einer größeren Seuche, die länger andauerte oder mehr Länder traf. Und doch soll die, die unter der Herrschaft des Justinian in Byzanz und angrenzenden Orten grassierte, noch heftiger an Wucht und rasender in der Ausbreitung gewesen sein, so dass es an einzel-

C 2.23.103 nen Tagen fünftausend Leichen gab, an manchen auch zehntausend. Ich traut es mich ja gar nicht auszusprechen, so unglaublich ist es, hätte ich nicht sehr zuverlässige Zeugen der damaligen Zeit.[15] Und nicht weniger auffallend ist die afrikanische Pest, die aus Karthago kommend allein in Numidien 80.000 Mensch dahingerafft.[16] In Nordafrika traf es 200.000. Bei Utica 30.000 Soldaten, die zum Schutz der Küstenregion zurückgelassen worden waren.

 Und schauen wir wieder nach Griechenland: dort wütete die Pest unter der Herrschaft des Fürsten Michael derart, dass die Lebenden tatsächlich nicht in der Lage waren, all ihre Toten zu bestatten.[17] Schließlich und endlich, so berichtet Petrarca aus seiner Zeit, grassierte die Seuche so stark in Italien, dass von 1000 Menschen kaum zehn überlebten.

Hungersnöte Und was Hungersnöte angeht, so sehen wir doch in unserer Zeit in der Tat nichts Vergleichbares mit dem Leiden alter Zeit. Unter dem Kaiser Honorius herrschte zu Rom eine solche Verteuerung und Knappheit an Getreide und Lebensmitteln, dass die Menschen schon anderen Menschen nach dem Leben trachteten.[18] Im Zirkus hörte man jemanden öffentlich rufen: Setze fest den Wert des Menschenfleischs! Unter Justinian, als die Goten ganz Italien verwüsteten, starben allein in Picenum 50.000 Menschen an Hunger. Und weit und breit verwendete man nicht nur Menschenfleisch als Nahrung, sondern auch menschliche Exkremente! Zwei Frauen hatten – mich graust es zu erzählen – 17 Männer in einen Hinterhalt gelockt, getötet – und aufgefressen. Dann wurden sie vom achtzehnten, der ihr Treiben erkannt hatte, umgebracht.[19] Von der Hungersnot in der Heiligen Stadt Rom kann ich schweigen: die Beispiele sind weithin bekannt.

Abgaben Wenn nun auch von den Tributen etwas zu reden sein wird, so will ich gar nicht abstreiten, dass sie schwer auf uns lasten. Aber nur, wenn du sie isoliert betrachtest. Vergleichst du sie dagegen mit früher, sieht die Lage anders aus.

 Die meisten Provinzen mussten unter römischer Herrschaft alljährlich von den Weiden den Fünften abtreten, von den Äckern den Zehnten. Antonius und Caesar waren nicht abgeneigt, in einem einzigen Jahr die Abgaben von neun oder zehn Jahren zu fordern. Nach der Ermordung Caesars musste jeder einzelne Bürger für den Freiheitskampf 25 % seiner ganzen Habe abgeben. Und darüber hinaus mussten alle Mitglieder des Senatorenstandes für jeden Dachziegel ihrer Häuser sechs Pfennige zahlen. Eine schier unglaubliche und für uns nicht zu leistende Abgabe.

C 2.23.104 Octavian (ich glaube, er hat hierbei wohl an seinen Namen – octavus, der Achte – gedacht) hat von den Freien den achten Teil aller Güter gefordert und erhalten.

 Ich lasse mal lieber weg, was die Triumvirn und andere Tyrannen verbrochen haben, damit ich unseren Machthabern durch meine Erzählung nicht auch noch ein Lehrstück der Willkür biete.

Raub Statt dessen will ich dir darlegen, wie Kolonien durch Vertreibung und Raub entstanden sind. Deren Gründung diente sehr wohl zur Stärkung des Reiches, gereichte jedoch ebenso den betroffenen Alteigentümern zum Leid. Denn überall wurden Legionen und Kohorten von Veteranen auf Felder und in Städte geführt. Und die armen Teufel in den Provinzen wurden von einer Sekunde auf die andere von all ihrem Besitz vertrieben. Und das völlig unverschuldet. Ihr einziges Vergehen waren Wohlstand und fruchtbares Ackerland. Sie wurden jedoch in einen Strudel vielfältiger Verluste gezogen: Es handelt sich schon um eine Notlage, all seines Geldes beraubt zu werden. Was aber, kommen auch noch Haus und Hof hinzu?! Nun ist es schon ein Leid, von diesen vertrieben zu werden. Was aber, wenn man des ganzen Vaterlandes verlustig geht – verjagt von Tempeln und Altären! Schau, einige tausend Menschen wurden in alle Winde zerstreut; Kinder von ihren Eltern getrennt, Hausherren von ihren Familien, Ehefrauen von ihren Männern. In alle Welt wurden sie versprengt, wie einem jeden sein Schicksal es bestimmte: die einen zu den vor Hitze dürstenden Afrikanern, wie der Dichter berichtet,[20] andere ins Skythenland zwischen Don und Donau, wieder andere in das von aller zivilisierten Welt geschiedene Britannien. Allein Octavian Augustus hat nur in Italien 28 Kolonien gegründet. Aber in den Provinzen beliebig viele. Und soviel ich weiß, geriet auch keine Maßnahme mehr zum Verderben unserer Gallier und Spanier als diese.

 


C 2.24.104  Kapitel 24

 

Einige Erzählungen besonderer Grausamkeiten, 

die alle Verbrechen unserer Zeit übertreffen.

 

 D  

                                 och du verweist auf Raserei und unerhörte Mordlust

                                 unserer Tage. Ich weiß wohl, mit was du mir da vor den

 Augen winkst und was in jüngster Zeit geschehen ist.[21] Aber auf Treu und Glauben, Lipsius, solches soll sich bei den Alten nicht auch ereignet haben?

 Wie unerfahren du doch bist, solltest du in Unkenntnis sein, wie bösartig, solltest du dich verstellen. Denn es gibt so viele und deutliche Beispiele, dass wir uns Mühe geben müssen, sie alle

Sulla aufzuzählen. Du kennst doch Sullas Namen, den sie den Glücklichen nannten,[22] kennst seine ruchlosen und teuflischen öffentlichen Anschläge, mit denen er 4.700 Bürger einer Stadt fortriss und in die Acht erklärte.[23] Und nicht, dass du denkst, es handelte sich bei diesen nur um unbedeutende Leute aus dem Volk: darunter befanden sich auch 140 Senatoren.. Ich will gar nicht die unzähligen Morde erwähnen, die vor aller Welt mit seiner Duldung oder auf seinen Befehl hin verübt wurden. Nicht umsonst hat Quintus Catulus geäußert: ‚Mit wem werden wir endlich noch 

C 2.24.105 leben, wenn wir im Krieg die Bewaffneten, im Frieden die Wehrlosen erschlagen?’

Doch selbigem Sulla haben nicht viel später drei Schüler nachgeeifert – ich denke da an die Triumvirn – und ebenfalls 300 Senatoren und 2000 Ritter für vogelfrei erklärt.[24] Was für Verbrechen! Nichts Fürchterlicheres hat die Sonne je gesehen oder wird sie jemals erblicken – von ihrem Aufgang bis zum Untergang. Lies, wenn du willst, bei Appian nach. Da findest du ein grausames Bild von Sich-Verstecken, Flucht und Verhaftungen gezeichnet. Und vom Wehklagen der Hinterbliebenen. Ich möchte selber sterben, wenn du nicht zugibst, dass in dieser barbarischen Zeit die Menschlichkeit selbst untergegangen ist.

Das ist also bei Senatoren und Rittern geschehen, das ist auch bei fast ebenso vielen Königen und politisch einflussreichen Männern geschehen. Aber hat man in dieser unseligen Zeit etwa nicht auch gegen die Masse kleiner Leute gewütet?!

Schau mir doch nur besagten Sulla an: Der befahl, vier Legionen seines Gegners, die ihm auf Treu und Glauben gefolgt waren, in der Villa Publica auf dem Marsfeld (wo sonst Truppenaushebungen vorgenommen wurden/Anm. d. Ü.) zu erschlagen, obwohl sie um Gnade flehten. Sie hatten sich vergebens einem trügerischen Versprechen folgend ergeben.[25] Als dann das Stöhnen und Ächzen der Sterbenden zur Kurie drang und den Senat in Erschütterung erstarren ließ, antwortete Sulla: ‚Wollen wir die Sache doch mal so sehen, ihr Väter, es werden doch nur wenige Aufständische auf meinen Befehl hin bestraft.’ Ich weiß nicht, was verstörender ist: dass ein Mensch so handeln oder reden kann! Du forderst weitere Beispiele grausamer Raserei? Bitte!

Galba Servius Galba hat in Spanien die Bevölkerung dreier Städte zusammenrufen lassen. Dabei tat er so, als wolle er etwas mit ihnen verhandeln, das ihnen von Nutzen sein könnte. Daraufhin hat er 7.000 Menschen – darunter die Blüte ihrer Jugend – abschlachten lassen.[26]

Lucullus Der Konsul Lucius Licinius Lucullus hat in derselben Region 20.000 Caucaeer durch seine Soldaten töten lassen – gegen das Vertrauen auf Schonung, da doch eine förmliche Übergabe der Stadt ausgehandelt war.[27]

Augustus Octavian Augustus hat nach der Eroberung Perugias 300 von denen, die sich ihm ergeben hatten, aus beiden Ständen (Senatoren wie Ritter) ausgewählt und auf dem Altar, den er zu Ehren des Göttlichen Caesars errichten ließ, wie Opfertiere abgeschlachtet.[28]

Caracalla Ich weiß nicht, durch welchen Scherz oder Spott Antonius Caracalla einen solchen Hass gegen die Alexandriner hegte. Aber er kam scheinbar friedlich in eben diese Stadt, ließ die gesamte Jugend auf einem Felde zusammenrufen und umzingelte sie mit seinem Militär. Dann gab er das Zeichen und ließ sie bis auf einen einzigen töten. Mit der gleichen Wut wendete er sich gegen die übrige Menge und entvölkerte die einst so belebte Stadt vollends.[29]

Mithridates König Mithridates hat mit einem einzigen Brief 80.000 römische Bürger, die aufgrund ihrer Geschäfte in Asien verstreut lebten, beseitigen lassen.[30]

Mesalla Als Valerius Mesalla Proconsul in Asien war, ließ er an einem einzigen Tag 300 mit dem Beil erschlagen. Dann spazierte er mit auf dem Rücken verschränkten Händen und voller Hochmut

C 2.24.106 zwischen den Leichen umher. Und als hätte er etwas Großartiges vollbracht, rief er aus: ‚Was für ein königlich Ding!’[31]

 Aber bislang rede ich ja nur von den Heiden und Ungläubigen. Doch schau dir nur unter den Namen, die dem wahren Gott

Theodosius huldigen, den Kaiser Theodosius an. Der leistete sich in Thessaloniki ein höchst schändliches und hinterlistiges Verbrechen: 7.000 unschuldige Bürger ließ er ins Theater rufen, als wolle er sie zu Spielen einladen. Dann schickte er seine Henker in die Arena und ließ die Ahnungslosen umbringen.[32] In der Tat – keines der Verbrechen der Alten scheint dieses an Schande übertreffen zu können.

 Also meine lieben Belgier, klagt weiter die Mordgier und Unredlichkeit der Fürsten heutiger Tage an.

 

 


C 2.25.106  Kapitel 25

 

Die Tyrannei der Gegenwart wird relativiert 

und auf die Boshaftigkeit menschlicher Natur zurückgeführt. 

Beispiele einstiger äußerer und innerer Unterdrückung.

 

  S  

                                 chließlich tadelst du die Gewaltherrschaft unserer Zeit so-

                                 wie die Drangsal, der Körper und Geist unterworfen sind.

 Nun ist es nicht mein Ehrgeiz, unsere Zeit über den grünen Klee zu loben. Ich möchte sie aber auch nicht unnötig schlecht reden. Denn wem sollte dies von Nutzen sein? Ich möchte lediglich zur Sprache bringen, was unseren vergleichenden Betrachtungen dient: Also los doch, nenn’ mir mal ein Zeitalter, das ohne große Tyrannei ausgekommen ist. Na, raus damit: ein einziges Volk oder Geschlecht! Wenn es dir gelingt – das Risiko gehe ich ein -, dann werde auch ich eingestehen, dass wir die aller Ärmsten der Elenden sind. Nun, was schweigst du? Es stimmt doch der spöttische Vers, der da sagt: ‚Alle ehrenwerten Fürsten kann man auf einen einzigen Ring schreiben.’ Denn ohne Zweifel ist es der

Tyrannei der  menschlichen Natur eigen, Macht rücksichtslos auszuüben. Es ist

menschlichen Natur nicht leicht, Maß zu halten in einem Bereich, der maßlos ist. Gerade wir, die wir Klage führen über die Tyrannei, tragen den Samen derselben in unseren Herzen. Dabei fehlt es den meisten gar nicht am guten Willen, diesen bösen Keim zu tilgen, sondern schlicht an der Kraft. Wenn eine Schlange vor Kälte erstarrt, trägt sie ihr Gift nichtsdestotrotz in sich. Aber sie beißt nicht zu. Ähnlich ist es mit uns, wenn bloß eine Schwäche oder eine gewisse Kälte des schicksalhaften Glücks uns daran hindert, Macht zu missbrauchen. Verleih den Menschen Kräfte, gib ihnen Mittel. Ich fürchte, die meisten derer, die jetzt die Mächtigen scheel beäugen, würden zu den schlimmsten Despoten mutieren. Beispiele des täglichen Lebens gibt es da genug. Da wütet der Vater gegen die Söhne, der Herr gegen die Sklaven und der Lehrer gegen die

C 2.25.107 Schüler. Auf ihre Art sind sie alle Phalariden.[33] Die Flut der kleinbürgerlichen Tyrannei wütet im Fluss, die der Könige im Ozean.

 Das ist allen Lebewesen eigen: Die meisten hetzen und jagen die Angehörigen ihrer eigenen Art. So spricht Varro[34] wahr: ‚So frisst der große oft die kleinen Fische, der Habicht würgt die Vöglein zu Tode.’ Aber, wirst du einwenden, das ist nur der Druck, der auf dem Physischen lastet. Viel drängender ist doch heute, was Geist und Seele bedroht.

Seelischer Druck So, so! Geist und Seele. Gib Acht, dass nicht Missgunst hier dich leitet statt Wahrheit. Wer so urteilt, der Geist könne unterdrückt oder unters Joch gezwungen werden, scheint mir die eigene Persönlichkeit und die göttliche Natur derselben nicht zu berücksichtigen.[35] Denn keine äußere Gewalt kann jemals bewirken, dass du willst, was du nicht willst, dass du denkst, was du nicht denkst! Das Recht meines Geistes, mich mit Verstand zu äußern, mag jemand fesseln und knebeln – aber niemand bindet

Die Natur von diesen selbst. Ein Tyrann vermag ihn von meinem Körper zu

Geist/Seele lösen, aber sein Wesen kann er nicht zerstören: Denn das ist rein, ewig und feuriger Natur und verachtet jede äußere wie gewaltsame Einwirkung.

Aber es mag vorkommen, dass es nicht geboten ist, seine Gedanken frei zu äußern. Sei’s drum! Doch wird dabei nur deine Zunge in Zaum gehalten, nicht dein Verstand. Und keineswegs wird dein Urteilsvermögen gezügelt, lediglich deine Handlungsfreiheit eingeschränkt. Und das soll neu und unerhört sein? Mein Guter, wie du dich irrst!

Wie viele Beispiele könnte ich dir nennen von denen, die unter Tyrannen wegen ihres Denkens Strafe litten, nur weil ihre unvorsichtige Zunge sie verriet?! Viele der Herrscher haben versucht, den religiösen Ansichten und Bräuchen Gewalt anzutun. So gebot es der Brauch, die Könige der Perser und des Orients anzubeten, und wir wissen, dass Alexander (d. Gr.) eben diesen Kult der Vergöttlichung für sich übernommen hat, obwohl seine makedonische Herkunft, die bäuerlich geprägt war, dem entgegenstand.

Bei den Römern hatte sogar der gute und maßvolle Princeps Augustus seine Flamen[36] und Priester in den Provinzen, ja in einzelnen Haushalten – wie ein Gott. Und dann Caligula! Was für ein lächerliches Sakrileg: Zuerst ließ er die Statuen der Götter enthaupten und befahl dann, ihnen seine Büsten aufzusetzen. Schließlich richtete er einen Tempel ein, in dem seine Priester die erlesensten Opfertiere schlachteten. Nero wollte für den Gott Apoll gehalten werden. So ließ er hervorragende Bürger hinrichten, einzig wegen des Vergehens, dass sie nie seiner göttlichen Stimme geopfert hatten.[37] Schon Domitian ließ sich von jedermann unverhohlen ‚Herr und Gott’ nennen. Was würdest du erst sagen, Lipsius, wenn du heute solche Eitelkeit und Gottlosigkeit in irgendeinem Königreich fändest? Doch ich will nicht näher an den Felsen dieser Scylla segeln, zu dem die Winde des Ehrgeizes mich verleiten wollen.

C 2.25.108 Denn Sicherheit ist der Lohn des Schweigens.

 Nur ein beispielhaftes Zeugnis früherer Gewaltherrschaft möchte ich noch aus dem Tacitus über das Domitianische Zeitalter anfügen. Er ist dir ja ein sehr vertrauter Autor.[38]

‚Wir lesen, dass Arulenus Rusticus, weil er Paetus Thrasea, und Herennius Senecius, weil er Helvidias Priscus lobte, zum Tode verurteilt wurden. Doch man wütete nicht nur gegen Schriftsteller persönlich, sondern auch gegen ihre Bücher, indem man sie den Triumvirn überantwortete, damit die Werke der berühmtesten Geistesgrößen auf dem Forum öffentlich verbrannt würden. Natürlich sollten in jenem Feuer die Stimme des Römischen Volkes, die Freiheit des Senats und das Gewissen der Menschheit vernichtet werden. Obendrein noch vertrieb man noch die Lehren der Weisheit aus der Stadt und schickte Wissenschaft und Kunst ins Exil, auf dass ja nicht etwas Ehrbares mehr einem begegnen oder widerfahren sollte. Wir haben in der Tat ein bedeutendes Beispiel unserer Duldsamkeit gegeben. Und wie die alte Zeit das höchste Gut in der Freiheit sah, so ist unser Los die Knechtschaft: Man hat uns durch Bespitzelung des freien Umgangs miteinander beraubt. Sprechen, Hören unterliegen der Kontrolle. Wir hätten mit der Stimme sogar unser Gedächtnis verloren, wenn es in unserer Macht läge zu vergessen, wie wir zu schweigen vermögen.’

 


C 2.26.108  Kapitel 26

 

Abschließende Lehre: Die Übel sind nicht wundersam oder neu,

sondern allen Menschen und Geschlechtern gemein. 

Darin soll unser Trost liegen.

 

 V   

                               on der vergleichenden Darstellung möchte ich nun ab-

                               rücken. Ich komme somit zum 2. Heerbann meiner Legion:

 der die Novitas bekämpft, die glauben machen will, alle Unbill sei neuartig. Aber das will ich nur kurz und knapp abhandeln, um ihm keine zu große Bedeutung beizumessen. Denn dem schon geschlagenen Feind nimmt man nur noch die Rüstung, und streitet nicht mehr offen mit ihm.

 Was kann in der Tat dem Menschen hierbei neu vorkommen? Es sei denn, er selbst sei ein Laie menschlicher Angelegenheiten. Crantor hat jene Wahrheit weise gepflegt: ‚Oh, ich Armer! Wieso Armer? – Was wir erdulden, ist menschlich.’[39]

 Unheil gibt es täglich – und überall auf der Welt. Weshalb stöhnst du, wenn Trauriges dir widerfährt? Warum wunderst du

C 2.26.109 dich?

‚Oh, Agamemnon, es ist alles zur Freude dir gedacht. Du sollst genießen, aber auch leiden. Denn du bist als Sterblicher geboren. Und wenn du auch dich weigerst, ist es vergebens, wenn den Göttlichen es gefällt.’[40]

Eher ist absonderlich, sollte jemandem vergönnt sein, dieser Drangsal zu entgehen, die allen gemein ist.

Solon führte einmal einen Freund, den großer Weltschmerz plagte, zu Athen hinauf auf die Akropolis. Von dort zeigte er ihm alle Gebäude, die ihm dort unten in der Metropole zu Füßen lagen.[41]

‚Bedenke, bitte,’ sprach er, ‚wie viel Leid in der Vergangenheit schon unter diesen Dächern war, wie viel jetzt dort wirkt und west und in Zukunft noch die Menschen plagen wird. Also hör auf, die Widrigkeiten zu beweinen, die einfach nur menschlich sind.’

 Ich wollte, Lipsius, mit dir dasselbe tun: dir aber die Welt zu Füßen legen. Da dies jedoch in der Wirklichkeit nicht möglich ist, lass es uns in der Phantasie bedenken. So stelle ich dich also, wenn du willst, auf den hohen Olymp. Nun schau hinab auf all die Städte, Provinzen und Königreiche. Fälle dein Urteil über die menschliche Drangsal: Das ist nichts als ein Theater, eine riesige Arena, in der Fortuna ihre grausamen Gladiatorenkämpfe veranstaltet. Du brauchst gar nicht weit zu blicken. Siehst du Italien? Es sind noch nicht dreißig Jahre, dass es sich von fürchterlichen Zwei-Fronten-Kriegen erholt hat. Oder das große Deutschland? Neulich sprühten dort starke Funken eines inneren Zwiespalts, die im Wachsen begriffen sind und sich, wenn ich mich nicht täusche, bald zu einem Flächenbrand ausdehnen. Oder schauen wir nach Britannien? Dort herrschte ständig Mord und Totschlag. Dass da jetzt ein wenig Frieden ist, verdankt es der Herrschaft des friedlichen Geschlechts der Frau.[42] Oder möchtest du lieber nach Frankreich blicken? Erbarmen! Auch jetzt schleicht durch alle seine Glieder der Knochenfraß eines Blut saugenden Krieges. Und so ist es überall. Auf der ganzen Welt!

 Denk immer daran, Lipsius, geteiltes Leid macht das deine leichter. Mitten in der Euphorie des Triumphzuges ruft der Sklave dem Triumphator von hinten zu: ‚Du bist Mensch.’ Derselbe sei an deiner Seite als Mahner, dass alles, was du erleidest menschlich sei. Es ist mit dem Schmerz wie mit der Arbeit: er wird leichter, wenn du ihn mit vielen gemeinsam erduldest.

 

 


C 2.27.110  Kapitel 27

 

Abschließende Betrachtung und Ermahnung 

zum Wiederholen und Wiederkäuen des Erörterten.

 

 I   

                               habe dir nun alles dargelegt, was für die Constantia und gegen

                               den Schmerz ins Feld zu führen ist. Möge Dir dies nicht zum

 Gefallen, sondern zum Heil, nicht zur Freude nur, sondern zum Nutzen dienen. Es wird dir hilfreich sein, wenn es nicht nur deine Ohren, sondern dein Herz erreicht. Wenn das Gehörte nicht brach liegt wie Samen, der ausgestreut an der Oberfläche des Ackers verdorrt. Und du es dir wiederholt zu Gemüte führst und immer wieder in Erinnerung rufst. Auch Glut wird nicht mit dem ersten Schlag am Feuerstein hervorgelöckt. Die schlummernde Kraft des Schönen und Guten (Honestum) wird in unseren kalten Herzen genau so wenig mit einem einzigen Anstoß geweckt. Dass einmal in dir dies Feuer brenne – aber nicht als Lippenbekenntnis und schöner Schein, sondern tatsächlich und deinem Handeln nach – darum bitte ich die ewige göttliche Macht auf Knien.“

 Mit diesen Worten erhob er sich und sprach: „Lipsius, die Sonne zeigt mir die Zeit des Mittagessens. Folge mir, ich gehe voran.“ Dies tat ich gern und eilends mit den Worten der Mysterien:[43] – das Böse floh ich; und gewann das Gute!“


[1] Hippolytos 822

[2] In der Glosse, n.2, gibt Lipsius als Quelle Flavius Josephus an.

[3] Alttestamentlich Bethsean.

[4] Lipsius formuliert: „bello legitimo … et aperto“. Viristius 132v.: „im rechtmessigen und offenem Kriege“. Die hierin liegenden Wertungen werfen die Frage nach einem latenten Antisemitismus oder Antijudaismus damaliger Zeitgenossen auf. Auch im Vergleich der Titel des vorliegenden Kapitels kann diese Frage diskutiert werden, wenn Vir. „de clade mirabile Iudaeorum“ übersetzt: „von der wunderbarlichen Niederlag der Juden.“

[5] Die genaue Summe der von Langius genannten Todesopfer beträgt – 1.237.490.

[6] Aug. De civ. dei.

[7] Orosius, Historia adversum paganos.

[8] = 2.112.000.

[9] S. z.B. Gregor von Tours, Hist. Francorum 2.7.

[10] Plutarch, Cato maior 10, Appian 6.39-41.

[11] Polyb. 25.1.1.

[12] Die Glosse (n.1) mildert die Schärfe der Aussage im Text ab: „Jedenfalls am Anfang. Derzeit, so weiß ich, wird dieser Teil der Welt wieder bewohnt und besser kultiviert.“

[13] 2. Sam. 24,15.

[14] Zonaras 12.,21 (C 2.23.102 n.4).

[15] Procopius, De Bello Persico 2.22-23 (C 2.23.103 n.1).

[16] Orosius, Hist. adv. paganos 5.11.4 (C 2.23.103 n.2).

[17] Zonaras 18.17.

[18] Zosimus, Hist. nova 6.11 (C 2.23.103 n.4).

[19] Procopius, De Bello Gothico 6.20.

[20] Vergil, Eclogae 1.65.

[21] Ev. das Massaker von Paris, Bartholomäusnacht 23.-24.8.1572.

[22] Appian, Bellum civile 1.97.

[23] Valerius Maximus, 9.2.1.

[24] Appian, Bellum civile 4.5.

[25] Eine Glosse (C 2.24.105) verweist auf die Quellen Valerius Maximus (9.2), der die Stärke der Mannschaften mit 24.000 Mann angibt, und Seneca (De clem. 1.12.2, statt wie im Text de ira), der nur 7.000 Opfer zählt.

[26] Valerius Max. 9.6.2.

[27] Appian, Bellum Hisp. 6.5.2.

[28] Sueton, Augustus 15.

[29] Dio Cassius 77.22.

[30] Valerius Max. 9.1.3; Appian, Bella Mithridatica 4.22.

[31] Seneca, De ira 2.5.5 (Lipsius ersetzt im Fließtext das „Rem regiam’ Senecas durch das Griechische 

[32] Augustin, De civ. dei 5.26.

[33] Phalaris (s. Cic. In Verrem 4.33; Sen. De ira 2.5.1) beispielhaft für den skrupellosen Tyrannen.

[34] Varro, M. Terentius Saturarum Mennippearum Reliquae, hg. A. Riese 165.

[35] Zu diesem Themenkreis s. Weisheit S. 174.

[36] Flamen – Opferpriester bestimmter Gottheiten (maiores – aus patrizischem, minores – aus plebejischem Geschlecht)

[37] Tac. Ann. 16.22, und vgl. Weisheit 174f. bes. Anm. 16.

[38] Es folgt als Kapitelschluss Tac. Agricola 2.

[39] Diog. Laert. 4.26 (Fragm. Trag. Eur. 300 Nauck S. 449).

[40] Eur. Iph. Aul. 29-33.

[41] Valerius Maximus 7.2.

[42] Elisabeth I.

[43] Demostenes, De corona, 313 (259).

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